17. und 18. Verhandlungstag

Prozess gegen HIV-Arzt: Verteidigung bezeichnet schwule Community als „merkwürdig”

17. Sept. 2021 Sascha Suden
Bild: canva

Am 17. und 18. Verhandlungstag im Prozess gegen einen HIV-Arzt, der wegen des Vorwurfs des sexuellen Missbrauchs vor Gericht steht, gab es Aussagen von Mitarbeiter*innen der Praxis des Angeklagten und eines Gutachters. Er sollte Auskunft darüber geben, inwieweit die Untersuchungen medizinisch indiziert gewesen seien

Der Prozess gegen den HIV-Arzt, der in fünf Fällen wegen sexuellen Mißbrauchs während der Behandlung angeklagt ist, zieht sich. Ein Grund: Die Verteidigung versucht Zweifel zu säen, damit es am Ende heißen kann, im Zweifel für den Angeklagten. Dafür werden neue Beweisanträge gestellt und neue Zeug*innen benannt, die die Aussagen der mutmasslichen Opfer als unglaubwürdig darstellen sollen.

Doch auch am 17. Verhandlungstag (13.09.) erwiesen sich die beiden neuen geladenen Zeug*innen als Eigentor der Verteidigung. Die beiden Mitarbeiter*innen, über 20 und 25 Jahre bereits in der Praxis des Angeklagten tätig, sollten bezeugen, dass auf der Untersuchungsliege, die die vermeintlichen Opfer als Tatort genannt hatten, der vorgeworfene Missbrauch gar nicht hätten stattfinden können. Eine Mitarbeiterin sollte darüber hinaus bezeugen, dass der HIV-Arzt mit den Patient*innen während der Behandlung niemals alleine gewesen sei. Allerdings räumte die 60-Jährige auf Nachfrage der Staatsanwältin ein, dass sie dies nicht genau beantworten könne und sowieso nur 30 Stunden in der Woche in der Praxis sei. Ihr Kollege, der seit 25 Jahren für den angeklagten Mediziner arbeitet, sagte, dass die Untersuchungsliege seit mehr als zehn Jahren nicht mehr benutzt werde und gegen einen typischen Proktologiestuhl ausgetauscht wurde.

Beschimpfungen von Prozessbeteiligten

Dies würde aber bedeuten, dass der angebliche Tatort in den Jahren 2012 und 2013, in dem sich die vorgeworfenen Taten ereignet haben sollen, gar nicht mehr in Benutzung war. Dies scheint nach den bisherigen Erkenntnissen des Prozesses unwahrscheinlich. Von einem Proktologiestuhl war bislang nie die Rede. Verteidiger Johannes Eisenberg hatte noch vor einigen Prozesstagen ein selbstgedrehtes Video mit genau dieser Untersuchungsliege vorgeführt, um zu beweisen, dass die vorgeworfenen Übergriffe auf dieser Untersuchungsliege nicht hätten stattfinden können. Sofern die Liege 2012 nicht mehr im Gebrauch war, wäre dies gar nicht notwendig gewesen. Zudem wirkte der Zeuge während seiner Befragung sehr unsicher und aufgeregt. Seine Aussage wurde bei jeder Nachfrage immer verworrener. Das bemerkte er selbst und wies als Erklärung darauf hin, dass zehn Jahre eine lange Zeit sei und er sich nicht mehr erinnern könne. Er blieb aber bei der Aussage, dass die Liege seit über zehn Jahren nicht mehr benutzt werde. Am Ende der Befragung machte Eisenberg jedoch selbst deutlich, dass die Aussage des Zeugen nicht glaubwürdig sein könne. Er legte eine Quittung über einen Proktologiestuhl vor, die auf den April 2019 dotiert war. Einkäufer des Stuhles waren der Zeuge und der Angeklagte. Eisenberg wollte mit der Quittung zeigen, dass die Liege erst 2019 durch einen Proktologiestuhl ersetzt wurde. Er ergänzte, dass die Liege noch im Raum 4 der Praxis stehe, damit man dem Arzt nicht die Vernichtung von Beweismitteln unterstellen könne.

Wie immer brüllte der Verteidiger während der Verhandlung, beleidigte die Staatsanwältin bis Richter Rüdiger Kleingünther mal wieder einschreiten musste und meinte, dass die „Beschimpfungen von Prozessbeteiligten aufzuhören hätten“ und er dies nicht dulden würde. Die Frage der Nebenklägervertreterin Barbara Petersen an den Zeugen, ob er denn die sexuelle Orientierung seines Chefs kenne, wurde von Eisenberg moniert und dann nach Beratung unter Ausschluß der Öffentlichkeit von Petersen zurückgezogen. Der Verhandlungstag endete mit einem absurden Angriff Eisenbergs, der der Staatsanwältin unterstellte, sie wolle dem Angeklagten eine „Hinterhalt stellen“, indem sie versuchte nachzuweisen, dass „mein Mandant ein Teil der merkwürdigen Szene“ sei. Gemeint war die schwulen Szene.

Spannung versprach dann der 18. Verhandlungstag am Donnerstag, den 16.09. Der medizinische Sachverständige Prof. Dr. Kurt Albrecht aus Hannover sollte Auskunft geben, ob denn – wie vom HIV-Arzt behauptet – alle Untersuchungen medizinisch indiziert gewesen seien. Er begann mit ausführlichen Erklärungen über die Funktionsweise der Prostata, des Penis und der männlichen Anatomie. Er erklärte, dass es seit 2015 einen Leitfaden für Behandlungen von MSM (Männer die Sex mit Männern haben) gibt und was alles zu einer Untersuchung im Rahmen eines STI-Checks gehört. Da die vorgeworfenen Taten aus dem Jahr 2012 und 2013 stammen, merkte er an, dass bereits vor der Entwicklung dieser Leitlinien das darin beschriebene Vorgehen zur allgemeinen Behandlungspraxis gehörte.

Aussagen des Gutachters lösen Unruhe bei der Verteidigung aus

Neben dem Prozess, dem der Gutachter beiwohnte, stützte sich sein Gutachten vor allem auf die Dokumentation der Praxis, die er von dieser erhalten hatte. Dabei betonte er, dass diese Dokumentation Schwächen aufweise und nicht eindeutig sei. Bemerkungen wie „ich werde nicht ganz schlau, was das bedeutet“ oder „mir fällt auf, dass die Dokumentation recht dürftig war“ zogen sich durch sein Gutachten. Auch fand er die Dokumentation „unübersichtlich“. Er beschrieb oft seine Verwunderung über verschiedene Berichte der mutmasslichen Opfer. Das ein Zeuge aufgefordert wurde zu mastubieren, um Ejakulat zu gewinnen, dass sich dann auf seinem Bauch ergoß, sei kein übliches Vorgehen. „Die Erbringung von Ejakulat im Beisein des Arztes ist nicht Usus“, so der Urologe. Zumal der Erguss auf dem Bauch die Probe konterminieren würde.

Auch die angebliche Aussage des Angeklagten gegenüber einem vermeintlichen Opfer, dass der Patient schön gespült sei, empfand der Gutachter als eigenartig: „Die Relevanz aus medizinischer Sicht, ob man jeden Tag spült, erschließt sich mir nicht.“ Die Frage der Nebenklägervertreterin Undine Weyers, ob denn ein Zungenkuß medizinisch indiziert sei, ließ Richter Kleingünther nicht zu. „Dass ein Zungenkuss nicht medizinisch indiziert ist, dafür brauche ich keinen Gutachter“, ließ er die Anwältin wissen. Auf die Frage, ob es nach einem Harnröhrenabstrich noch weitere Berührungen brauche, erwiderte der Sachverständige mit der Aussage: „Es entzieht sich meiner Vorstellungskraft, warum es weitere mastubierende Bewegung“ brauche. Auch das es bei einem Zeugen zweimal eine rektale Untersuchung gab, verstehe er nicht. Zudem widersprach er der Behauptung des Angeklagten, dass ein Prostatasekret als Gleitmittel dienen könne, und bemerkte, es sei ungewöhnlich, dass sich Patient*innen für eine Untersuchung komplett entkleiden müssen. Erst würde man den Oberkörper freimachen, danach den Unterkörper. „Das ist natürlich kein Gesetz,“ sagte er, „aber es ist üblich“. Ebenfalls sei es unüblich, dass man für eine Prostatauntersuchung einen Finger im Anus hat und gleichzeitig den Penis abstreicht, um Sekret zu erhalten. Diese Vorgehensweise kenne er nicht. Die Aussagen lösten große Unruhe bei der Verteidigung aus, die wohl mit einem entlastenden Gutachten für ihren Mandanten gerechnet hatte.

Ein ungewöhnlicher Besucher nahm zur Unterstützung neben dem Angeklagten und dem Verteidiger Platz: David Horst, Chef der Pathologie der Charité. In welcher Funktion er da war, wurde nicht gesagt. Schließlich hatte die Charité der SIEGESSÄULE schriftlich erklärt, dass bis zum Abschluss der juristen Klärung die Lehrarzttätigkeit des Angeklagten an der Charité ruht. Warum nun aber ein führender Mediziner der Charité für den Angeklagten so offensiv Stellung bezieht, indem er auf der Anklagebank Platz nimmt, blieb unklar.

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