Prozess gegen HIV-Arzt: „Ich empfand es nicht als Missbrauch“
Im Prozess gegen einen Berliner HIV-Arzt wegen mutmaßlichem sexuellen Missbrauch sagte am sechsten Verhandlungstag (17.05.) ein weiterer Zeuge aus. Er gab an, während der Behandlung sei es zwischen ihm und dem Arzt zu sexuellen Handlungen gekommen – allerding mit seinem Einverständnis. Die Frage stellt sich, ob es sich dennoch um eine Missbrauchssituation gehandelt haben kann. Der Berliner HIV-Arzt muss sich vor Gericht verantworten, weil ihn fünf Patient*innen angezeigt haben. Sie werfen ihm vor, er habe sie während der Behandlung in seiner Praxis sexuell missbraucht.
Zeit spielt eine entscheidende Rolle bei diesem Prozess gegen den Berliner HIV-Arzt. An welchem Tag war die vermeintliche Tat? Wie lange ging das Gespräch mit dem Arzt? Wie lange dauerte die Untersuchung? Fragen, die kaum einer der Zeugen mehr mit Gewissheit beantworten kann. Schliesslich liegt bei einigen die mutmaßliche Tat bereits mehr als 10 Jahre zurück. Diese verschleppte Prozessdauer spielt dem Angeklagten in die Hände, denn ohne eine genaue Benennung der Tat und Umstände, kann es auch keine Verurteilung geben. Dies wurde am 6. Prozesstag im Amtsgericht Tiergarten deutlich.
Verteidiger Eisenberg eröffnete die Verhandlung mit seinen Ausführungen zu dem am Montag unter Ausschluss der Öffentlichkeit vernommenen Zeugen Mohammed (Name von der Redaktion geändert). Er sagte, der Zeuge sei ungenau und unglaubwürdig gewesen. „Eine Verurteilung kann nicht erfolgen, da nicht feststeht, wann die Tat stattfand“, stellte er fest. Während der Zeuge meinte, der Missbrauch müsse zwischen März und Mai stattgefunden haben, lässt die Patientenakte nur einen möglichen Tatzeitpunkt im Dezember zu. Eisenberg schloss aufgrund des mangelnden Erinnerungsvermögens des Zeugen auf „Lügen und Unaufrichtigkeiten“.
Seine Strategie scheint klar: Einerseits die Zeugen zu diskreditieren, andererseits mit langen Beweisanträgen und ausufernden Einlassungen Zeit zu schinden. Denn je länger der Prozess dauert, um so näher rückt die Verjährung. Bei einer Verjährung bliebe der Angeklagte straffrei, selbst, wenn er schuldig wäre. Dafür ist der Verteidigung kein Mittel zu schade.
Statt sechs Zuschauer*innen sind nun nur noch drei zugelassen. Grund: nach fünf Verhandlungstagen hat der Vorsitzende Richter Kleingünther festgestellt, dass der Gerichtssaal 135 zu klein ist und dadurch nicht die Corona-Abstände eingehalten werden können. Eisenberg konstatierte daraufhin, es wären zwei der Zuschauer*innen, die draußen bleiben müssen, bereits doppelt geimpft und könnten deshalb sehr wohl an der Verhandlung teilnehmen. Seiner Meinung nach sei das sonst „eine unzulässige Beschränkung der Öffentlichkeit“. Er scheint neben dem Versuch, das Verfahren in die Verjährung zu bringen, auch noch mögliche Revisionsgründe vorzubereiten. Revision bedeutet, dass neu verhandelt werden muss, wenn es Verfahrensfehler gegeben hat. Und wieder würde die Verjährungsuhr ticken. Der Richter schmetterte den Antrag jedoch ab.
Zeuge behauptet: Der Angeklagte habe ihm den Penis massiert
Ein weiteres mutmaßliches Opfer trat am 6. Prozesstag als Zeuge auf, allerdings nicht als Nebenkläger. Die Öffentlichkeit wurde diesmal nicht ausgeschlossen. Der Richter versuchte den Zeugen jedoch zum Ausschluss zu bewegen, da intime Dinge angesprochen werden würden, wie Krankheiten oder sexuelles Verhalten. Der Zeuge, mittlerweile 53 Jahre, blieb bei seinem Entschluss und die Presse und die Öffentlichkeit somit im Verhandlungsraum.
Die Aussagen des Zeugen deckten sich allerdings nicht mit den Angaben, die er vor sechs Jahren gegenüber der Polizei gemacht hatte. Der Grund: Er konnte sich an kaum mehr etwas erinnern – weder wie der Behandlungsraum aussah noch was gesprochen wurde. „Es ist wirklich sehr lange her“, sagte er. Seine Aussage bei der Polizei sei die richtige gewesen, denn damals sei „die Erinnerung frischer“ gewesen.
Bei einem sei er sich allerdings ganz sicher: „Ich empfand es nicht als Missbrauch“. Ihm sei klar gewesen, „es wurde mehr an meinem Glied rumgemacht, als ein Arzt bei einer Krankheit macht“. Der Angeklagte habe ihm den Penis massiert, ihn zur Erektion und Ejakulation gebracht, an seinen Brustwarzen gesogen. „Ich habe seinen Kopf dort hin geführt, da ich wusste, dass ich dann schneller komme.“ Der Angeklagte habe ihm laut Aussage des Zeugen seinen eigenen halbsteifen Schwanz, entgegengehalten. Allerdings betont er, dass dies mit seinem Einverständnis geschehen sei.
Scherze über HIV-Arzt
Schließlich habe der Zeuge vorher schon gewusst, dass der Angeklagte „dort Patienten eines bestimmten Typs mehr anfasst als notwendig“. In der queeren Community rund um den Nollendorf-Kiez habe man sogar darüber Scherze gemacht. „Wenn du Krankheiten hast, dann gehe dahin und du bekommst mehr Extras“, sei dort nach Angabe des Zeugen über den angeklagten HIV-Arzt gesprochen worden. Auch sein Ex-Partner habe dort das Gleiche erlebt.
„Für mich war das ein Arzt, der eine rote Linie überschreitet und gut ist“, sagte der Zeuge. Deshalb trete er auch nicht als Nebenkläger auf. Ihn habe die Sache nicht so heruntergezogen wie den vor ihm vernommenen Zeugen Mohammed, mit dem er bekannt sei. Mohammed habe ihm von seinem mutmasslichen Erlebnis erzählt und „dass er damit nicht einverstanden war, dass es ihm auf der Seele liegt und er rechtliche Schritte einleiten will.“
Vorausgesetzt das Gericht glaubt den mutmaßlichen Opfern, wird wohl bei der Beurteilung des Falles eine der entscheidenden Fragen sein, ob man sich missbraucht fühlen muss, um missbraucht worden zu sein. Wie der Paragraf §174 c im Strafgesetzbuch, zum sexuellen Mißbrauch unter Ausnutzung eines Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses, ausgelegt wird, ist offen. Zumal es bis heute keinen wirklichen Präzedenzfall zu geben scheint. Darf ein Arzt im Rahmen der Behandlung sexuelle Handlungen vornehmen, wenn dies mit Einverständnis des Patienten geschieht, oder widerspricht das nicht nur dem ärztlichen Ethos, sondern auch dem Gesetz?
Die Verhandlung wird am 27.05. fortgesetzt.
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