Bericht vom zehnten Verhandlungstag

Prozess gegen HIV-Arzt: Polizeibeamter erinnert sich an viele mutmaßliche Betroffene

11. Juni 2021 Sascha Suden
Bild: canva

Am zehnten Verhandlungstag im Prozess gegen einen Berliner HIV-Arzt wegen mutmaßlichem sexuellen Missbrauch ging es vor allem um eine Bewertung der Glaubwürdigkeit der Zeugenaussagen. Befragt wurde auch ein Polizeibeamter, der die Anzeigen der mutmaßlichen Opfer aufgenommen hatte

Die wichtigsten Zeugen im Prozess gegen den Berliner HIV-Arzt, den fünf Patient*innen angezeigt haben, weil sie ihm sexuellen Missbrauch vorwerfen, wurden gehört. Von den fünf mutmaßlichen Opfern wird nur eine Person, Frau G., vor Gericht nicht aussagen, da ihr gesundheitlicher Zustand dies nicht zulasse. Im weiteren Verlauf des Prozesses geht es nun darum, die Glaubwürdigkeit der Zeugen und ihrer Aussagen zu überprüfen. Die Fragestellung ist also: Wie schlüssig ist das geschilderte Geschehen und kann es sich so zu getragen haben, wie die Zeugen erzählen?

Der Verteidiger Johannes Eisenberg versucht seit Beginn des Prozesses die mutmaßlichen Opfer der Lüge zu überführen. So nahm er an diesem Prozesstag auch die Befragung des Zeugen Lars (Name von der Redaktion geändert) vom vergangenen Donnerstag auseinander. Dabei ging es vor allem um Ungenauigkeiten beim Gedächtnisprotokoll des Zeugen, in dem der mutmaßliche Missbrauch durch den Angeklagten geschildert wird. Es liegt in zwei Versionen vor: Eine Version soll unmittelbar nach dem angeblichen Vorfall angefertigt worden sein, eine zweite Version, die auch Reflexionen darüber enthält, etwas später. Anfangs hatte der Zeuge noch behauptet, das von ein paar Satzzeichen abgesehen das Protokoll im Nachhinein nicht verändert wurde. Er musste aber dann doch einräumen, dass auch der Inhalt bearbeitet wurde. Wegen der Transparenz hatte der Zeuge beide Versionen vorgelegt, was jetzt zu Nachfragen führte.

Auch gab es Unstimmigkeiten bei der Schilderung des mutmaßlichen Missbrauchs. So hatte der Zeuge bei der Vernehmung der Polizei davon gesprochen, dass der angeklagte Arzt bei ihm die ganze Hand eingeführt habe. In der Verhandlung räumte er später ein, dass es ein Finger gewesen sei. Deswegen warf der Verteidiger die Frage auf, ob der Zeuge versucht habe, die angeblichen Vorgänge in der Praxis zu skandalisieren, um dadurch mehr Gehör zu finden.

Verteidigung benennt neuen Zeugen

Die Taktik der Verteidigung scheint aufzugehen. Es ging vor allem um Formalien, z.B. wann wurde das Gedächtnisprotokoll erstellt und geändert und nicht mehr um den Inhalt. Eisenberg verlor sich am Donnerstag teilweise in blumigen Formulierungen. Er sprach von „der Aura des Authentischen“, die der Zeuge Lars seinem Gedächtnisprotokoll verleihen wolle, um dann zu attestieren: „Glaubhaft ist das nicht“. Er fragte auch, warum das Gedächtnisprotokoll erst so spät in den Prozess als Beweismittel eingebracht worden sei. Lars Anwältin Barbara Petersen erklärte, das das Gedächtnisprotokoll für sie damals „kein Beweismittel, sondern eine Informationsgrundlage“ gewesen sei. Aus Erfahrung wisse sie, dass die meisten Betroffenen ein solches Protokoll nicht für die Öffentlichkeit anfertigen, „sondern nur für die eigene Therapie und zur Bewältigung“. Eine große Bedeutung hat das Gedächtnisprotokoll, da ihm zu entnehmen ist, wie das vermeintliche Opfer, den mutmaßlichen Missbrauch erlebt haben will. Die Verteidigung behauptet, dass der Zeuge den angeklagten Arzt zu sexuellen Handlungen habe verführen wollen. Für den Verteidiger sei es schwer vorstellbar, „dass sich ein Arzt sexuell angezogen fühlt von Patienten mit sexuell übertragbaren Krankheiten“.

Aus der Sicht des Angeklagten macht der Verteidiger einen guten Job. So erläuterte er zum Beispiel, dass eine Bemerkung des angeklagten Arztes, die der Zeuge in seiner Aussage über den mutmaßlichen Missbrauch als sexuelle Anzüglichkeit empfunden habe, eine medizinisch indizierte Nachfrage gewesen wäre. Für Eisenberg verschwämmen deswegen beim Zeugen die „Grenzen zwischen Realität und Fantasie“. Er geht sogar soweit dem Zeugen Lars zu unterstellen, dass eine Krankheit, die dazu führte, dass der Zeuge einen Prozesstag aussetzen musste, von ihm nur simuliert gewesen sei, um sich dadurch dem Prozess zu entziehen.

Dann zauberte der Verteidiger einen Zeugen aus dem Hut – so nannte es zumindest Lars Anwältin Barbara Petersen –, der aussagen könne, wie Lars versucht habe, weitere mutmaßliche Opfer zu Aussagen zu überreden. Eisenberg nutzte dabei die Gelegenheit, um unnötigerweise bereits zum vierten Mal während des Prozesses die private Handynummer von Lars vor den Prozessbeobachter*innen zu nennen. Obwohl die Staatsanwältin und die Nebenklägerverteidigerin dagegen waren, den neuen Zeugen zu hören, da er zu dem mutmaßlichen Missbrauchsgeschehen nichts beitragen könne, folgte Richter Rüdiger Kleingünther dem Antrag der Verteidigung. Der Zeuge soll am kommenden Montag aussagen.

Aussage des Polizeibeamten

Am 10. Prozesstag sagte auch der Polizeibeamte aus, der die Anzeigen der fünf mutmaßlichen Opfer aufgenommen und die Vernehmung geführt hatte. Mittlerweile ein 66-jähriger Pensionär, der sich 14 Jahre lang beim LKA mit Missbrauchsfällen beschäftigt hatte. Er erinnerte sich, dass es viele mutmaßliche Betroffene gegeben hätte, die Anzeige gegen den Angeklagten erstattet hatten. Deren Aussagen seien „alle ziemlich gleich“ und für ihn seien sie „schlüssig“ gewesen. Sieben bis acht Personen habe er vernommen und recherchiert, ob es noch „weitere Personen gibt, die betroffen sein könnten“. Er war als Zeuge geladen, um die Glaubwürdigkeit des Zeugen Mohammed zu überprüfen, der bei der Vernehmung vor dem Gericht und bei der Anzeige bei der Polizei verschiedene Tatzeiten angegeben hatte. Der Polizeibeamte bestätigte die Aussage des Zeugen: „Mohammed sagte, er habe sich in der Tatzeit geirrt, nachdem er noch einmal in den Kalender geschaut habe“.

Eine Frage der Staatsanwältin an den Polizeibeamten a. D. brachte Eisenberg zum Schäumen: „Haben sie ein Gefühl dafür gehabt, ob ein Zeuge die Wahrheit sagt?“ Diese Nachfrage schien nicht unwesentlich, gerade wenn es um die Einschätzung der Glaubwürdigkeit geht. Doch Eisenberg monierte: „Er ist kein Sachverständiger für die eigene Wahrhaftigkeitskompetenz.“. Der Zeuge erwiderte: „Ich würde trotzdem gerne darauf antworten“, doch sowohl der Richter als auch Eisenberg unterbrachen ihn mit einem harschen „Nein!“ Die Befragung geriet wieder aus dem Ruder. Die Staatsanwältin ermahnte die Verteidigung, sich doch bitte an die Strafprozessordnung zu halten und sie bei ihrer Befragung nicht permanent zu unterbrechen. Und der Richter sprang ihr bei, ermahnte die Verteidigung und fügte hinzu: „Wenn ich könnte würde ich über andere Maßnahmen nachdenken, die gibt es aber nicht“.

Die Verteidigung bat dann noch die Staatsanwältin, den Angeklagten mit seinem Titel Herrn Dr. anzusprechen. Eisenberg ätzte, dass die Staatsanwältin deswegen auf die Nennung des Doktortitels verzichte, „weil sie selbst nicht promoviert“ sei. Um dann am Ende noch zu fragen: „Wo haben sie eigentlich ihren Beruf gelernt?“ Diese Frage stellt man sich bei dem Verteidiger bereits während des ganzen Prozesses.

Der nächste Verhandlungstag ist der 14. Juni. Ursprünglich sollte an diesem Tag das Urteil gefällt werden, doch es wurden 11 weitere Prozesstage anberaumt. Das Urteil wird nun vermutlich am 23. September gefällt.

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