Prozess gegen HIV-Arzt: Kein guter Tag für den Angeklagten
Am 11. Verhandlungstag im Prozess gegen einen HIV-Arzt wegen mutmaßlichem sexuellen Missbrauch trat ein Zeuge der Verteidigung auf. Dabei kam es zu einer überraschenden Wendung. Sascha Suden berichtet für SIEGESSÄULE vom Prozess
Schon seit April läuft die Gerichtsverhandlung gegen einen bekannten Berliner HIV-Arzt. Ihm wird in diesem Prozess in fünf Fällen vorgeworfen, Patient*innen während der Behandlung missbraucht zu haben. Das Urteil hätte heute verkündet werden sollen. Doch dazu kam es nicht: das Gericht entschied, dass erst noch weitere Zeug*innen gehört werden müssen, bis ein Urteil in der Sache gesprochen werden kann. Als nächster Verhandlungstag ist der 24.6. angesetzt.
Am heutigen Verhandlungstag trat nur eine Person als Zeuge auf: Edwin (Name von der Redaktion geändert), ein ehemaliger Patient des angeklagten Arztes. Seine Aussage sollte belegen, dass das mutmaßliche Opfer Lars (Name von der Redaktion geändert) ein Komplott gegen den Arzt geplant habe und dafür sogar bereit gewesen sei, andere Zeug*innen zu einer Falschaussage zu drängen. Dies zumindest schien sich der Verteidiger des Angeklagten, Johannes Eisenberg, zu erhoffen. Die Verteidigung hatte den Zeugen Edwin benannt, was sich aber offenbar als Eigentor herausstellte: Denn die Ausführungen von Edwin bestätigten eher die Glaubwürdigkeit des Zeugen Lars.
Lars kontaktierte Zeugen per Telefon
So berichtete Edwin, er sei im März 2019 von jemandem angerufen worden, der sich als Lars vorstellte. Lars habe Zeugen gesucht, die gegen den Angeklagten aussagen wollten, und habe Edwin von sexuellen Belästigungen erzählt. Mit diesen Schilderungen habe Edwin jedoch nichts anfangen können, da seine eigenen Erfahrungen als Patient des Arztes sich damit nicht gedeckt hätten. Das Gespräch mit Lars habe er als „strange“ empfunden. Lars habe nahegelegt, er wolle dem Arzt „die Macht wegnehmen“, denn dieser missbrauche laut Lars seine Macht, indem er Patienten sexuell belästige. Das Gespräch habe nur fünf Minuten gedauert. Lars Nachnamen habe Edwin nicht erfahren, aber die Nummer aus dem Display notiert.
Der 48-jährige Edwin, der in Tel Aviv und Berlin lebt und bereits seit über 20 Jahren bei dem Arzt in Behandlung ist, war zum Zeitpunkt des Anrufs in Berlin. Drei Tage später hatte er zufälligerweise einen Termin bei dem Angeklagten. Dort habe er ihm von dem Telefonat mit Lars berichtet und nachgefragt, ob es Probleme gebe. Daraufhin habe ihm der Arzt mitgeteilt, dass jemand versuche, „etwas gegen ihn aufzubauen“, und dass eine Gruppe von Personen existiere, die gegen den Arzt agiere. Danach habe Edwin nie wieder mit dem Arzt über das Telefonat gesprochen. Bis ihn der Angeklagte vor etwa zehn Tagen dann darum bat, vor Gericht auszusagen.
Während seiner Aussage wirkte der Zeuge nervös und angespannt. Er sprach leise. Edwin sollte Auskunft darüber geben, ob Lars in dem Telefonat den Ausdruck „gefistet“ verwendet hatte, als er über den vermutlichen Missbrauch durch den Angeklagten sprach. Die Staatsanwältin wollte von Edwin wissen, warum er bei seiner Aussage über das Telefongespräch mit Lars mal von „fingern“ und mal vom „Fisting“ sprach und ob zwischen beiden Begriffen ein Unterschied bestehe. „Durchaus“, antwortete der Zeuge, fügte aber hinzu: „Ich kann das hier nicht aufklären, da müssen sie bei Google nachschauen“. Verteidiger Eisenberg intervenierte, dass die Frage nicht von Belang sei. Doch auch Richter Rüdiger Kleingünther wollte den Punkt geklärt wissen. „Fragen sie fünf Leute, dann bekommen sie fünf Antworten. Bei dem einen ist es ein Finger, bei dem anderen sind es zwei Hände“, sagte Edwin. „Auch das Einführen eines Fingers kann durchaus als Fisten bezeichnet werden.“
Eine spannende Antwort, denn das hatte auch der Zeuge Lars ausgesagt: Dass der Begriff „Fisten“ in der schwulen Szene unterschiedlich benutzt werde. Das Gerüst der Verteidigung brach hier zusammen, denn sie hatte dem Zeugen Lars eine Skandalisierung unterstellt, indem er den Begriff „Fisting“ gegenüber Freunden und Bekannten und in seiner Aussage vor dem Gericht benutzt habe. Aus Edwin, dem Zeugen der Verteidigung, wurde ein Zeuge der Anklage. Als Edwin dann noch erwähnte, dass Lars auch in Bezug auf den Arzt nur von „Fingern“ gesprochen habe, war die Verteidigung vorgeführt. Hatte sie doch im Beweisantrag behauptet, der Zeuge Lars habe in Bezug auf den Angeklagten nur von „gefistet“ gesprochen.
Verteidigung spricht von „Kesseltreiben“ gegen den Angeklagten
Zum ersten Mal in diesem Prozess schien der Verteidiger Eisenberg kleinlaut. Nach der Entlassung des Zeugen beklagte er, dass der Zeuge „ersichtlich ängstlich und aufgeregt“ gewesen sei. Eisenbergs Taktik, die er schon des Öfteren zeigte, wenn das Verfahren nicht so lief, wie er es sich wohl wünschte, wandte er auch diesmal an: er wechselte auf einen Nebenschauplatz. Vor acht Jahren, als das zur Zeit ruhende Verfahren gegen den Angeklagten vor der Ärztekammer lief, waren andere Verteidiger beauftragt, die damals sogar ein Geständnis des Angeklagten in Aussicht gestellt hatten. Diesen ehemaligen Verteidigern unterstellte Eisenberg jetzt, sie hätten das „Kesseltreiben“ gegen den angeklagten HIV-Arzt nicht beenden wollen.
Mit den Begriff Kesseltreiben waren wohl mutmaßliche Opfer gemeint, die wie Lars versucht hatten zu eruieren, ob es noch weitere mutmaßliche Opfer gegeben habe. Die damaligen Anwälte seien laut Eisenberg „wohl nicht in der Lage“ oder „bereit“ gewesen „herauszufinden“, wer hinter dem vermeintlichen Kesseltreiben stecke.
Den Vorwurf des „Kesseltreibens“ wies Lars Anwältin Petersen zurück. Die Kleinanzeige, die Lars damals in der SIEGESSÄULE geschaltet hatte, sei „kein Kesseltreiben“ gewesen. Stattdessen sei es Lars darum gegangen, „weitere Zeugen zu finden“. Auch sei der angeklagte Arzt in der Printanzeige „nicht identifizierbar“ gewesen. Dass seine Person dennoch im Anschluss identifiziert werden konnte, sei allein der Tatsache geschuldet, dass der Arzt laut Petersen „stadtweit dafür bekannt“ sei. Petersen bescheinigte außerdem dem Zeugen Edwin, dass er einen authentischen Eindruck gemacht habe.
Wie dem versierten Verteidiger Eisenberg ein solcher Fehler passieren konnte – einen Zeugen zu benennen, der dann im Sinne der Gegenseite aussagt – blieb am Ende die große Frage im Gerichtssaal. Zum Schluss teilte Richter Kleingünther noch mit, dass Lars den Computer gefunden habe, auf dem Lars sein Gedächtnisprotokoll über den mutmaßlichen Missbrauch geschrieben hatte. Dieser Computer werde nun vom LKA untersucht, um die Aussage von Lars zu bestätigen, das Gedächtnisprotokoll nicht im Nachhinein entscheidend verändert zu haben. Auch dem Zeugen Martin war von der Verteidigung unterstellt worden, sein Gedächtnisprotokoll verändert zu haben. Doch das LKA hatte nach Untersuchung des Computers die Aussage von Martin bestätigt, keine entscheidenden Veränderungen daran vorgenommen zu haben. Verteidiger Eisenberg, der wohl eine weitere Niederlage ahnte, sprach plötzlich davon, „dass die Authentizität der Protokolle nicht entscheidend“ sei, obwohl er zuvor drei Verhandlungstage lang auf der Frage herumgeritten hatte, wann die Protokolle erstellt wurden.
Fazit: Kein guter Tag für den Angeklagten.
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