Prozess gegen HIV-Arzt: Homosexualität des Angeklagten soll bewiesen werden
Am 16. Verhandlungstag gegen den Berliner HIV-Arzt, der wegen des Vorwurfs des sexuellen Missbrauchs vor Gericht steht, stellte die Staatsanwältin Beweisanträge zur sexuellen Orientierung des Angeklagten. Sascha Suden berichtet für SIEGESSÄULE über den Prozess
Eigentlich begann der 16. Prozesstag am 2. September gegen den angeklagten HIV-Arzt sehr beschaulich: Richter Rüdiger Kleingünther ließ neue Zeug*innen zu und wies einige Beweisanträge ab. Die Vertreter*innen der Nebenklage gaben außerdem ihre Meinung und Kritik an dem Glaubwürdigkeitsgutachten zu Protokoll, das am vorangegangenen Verhandlungstag gehört worden war. Dieses Gutachten hätte überprüfen sollen, ob die Aussagen der Zeug*innen glaubwürdig seien. Der Gutachter kam jedoch zu dem Schluß, dass er dies nicht mit Bestimmtheit sagen könne.
Lebendig im Saal wurde es, als die Staatsanwältin im Zusammenhang mit dem Gutachten plötzlich betonte, dass die sexuelle Orientierung des Angeklagten sehr wohl Gegenstand der Hauptverhandlung sein müsse. Der Gutachter habe nichts über die Umstände verlauten lassen, in denen die Handlungen, um die es bei der Gerichtsverhandlung geht, stattgefunden haben sollen. Laut der Staatsanwältin spiele es aber sehr wohl eine Rolle für das Verfahren, ob der Angeklagte homosexuell sei oder nicht. Das Wissen darum, welche sexuelle Orientierung der Angeklagte hat, könnte dem Gericht helfen, gerade die Aussagen der Zeug*innen und mutmasslichen Opfer besser einzuordnen.
Etwa bewerte man „in der schwulen Szene“ Formulierungen wie „du bist aber schön sauber“ durchaus als sexuelle Äußerungen, so die Staatsanwältin. Sie wollte deshalb drei Beweisanträge stellen: einen zu den „Umständen der sexuellen Orientierung des Angeklagten“, einen darüber, ob ein ehemaliger Patient (der nichts mit den Vorwürfen zu tun hat) mit dem Arzt eine Beziehung eingegangen sei. In einem dritten Beweisantrag solle ein Experte der Charité über „die Lebensweise und die Lebensumstände homosexueller Männer in Berlin“ berichten.
Ausschluss der Öffentlichkeit
Doch bevor die Staatsanwältin die Anträge stellen konnte, beantragte Verteidiger Johannes Eisenberg hysterisch den Ausschluss der Öffentlichkeit für diese Beweisanträge. Denn laut Eisenberg gehe es der Staatsanwaltschaft dabei lediglich darum, „den Angeklagten in seiner Intimsphäre anzugreifen“. Schließlich seien nicht die Beziehungen des Angeklagten Gegenstand des Gerichtsverfahrens, sondern es gehe um ein Arzt-Patienten-Verhältnis. Das Privatleben des Angeklagten gebe „keinen Aufschluss darüber, wie er seinen Beruf ausübt“. Beinahe schrie Eisenberg die Staatsanwältin an dieser Stelle an. Er habe es noch nie erlebt, sagte er, dass „ein Vertreter der Staates über die sexuelle Orientierung des Angeklagten Auskunft haben will“.
Vermutlich hat Eisenberg allerdings auch noch keinen Schwulen verteidigt, der des sexuellen Missbrauchs angeklagt wird. Auf einschlägigen schwulen sozialen Medienplattformen, wie den Dating-Portalen Gayromeo, Tinder oder Grindr, ist der Angeklagte zu finden. In diversen Interviews in verschiedenen Medien sagte der Angeklagte bereits, dass er nicht als „Schwuchtel“ bezeichnet werden wolle, oder sprach über seinen ehemaligen Partner. In einer weiteren Community-Publikation bezeichnetet sich der Angeklagte in einem Interview im Jahr 2020 als „schwuler Arzt“.
Warum macht die Verteidigung ein Geheimnis aus der sexuellen Orientierung des Angeklagten?
Die sexuelle Orientierung des Angeklagten dürfte in der schwulen Szene demnach hinlänglich bekannt sein. Warum macht Eisenberg plötzlich ein Geheimnis daraus? Hat der Verteidiger Angst, dass der Richter homophob sein könnte, und will seinen Mandanten nur schützen? Eisenberg ist in der Vergangenheit selbst durchaus schon mit Aussagen in Erscheinung getreten, die man homophob auslegen könnte: so sprach er an einem früheren Prozesstag im Zusammenhang mit dem Thema Schwulsein davon, man wolle seinen Mandaten „herabsetzen“, so als ob Schwulsein per se eine Herabsetzung wäre. Und auch am heutigen Verhandlungstag sagte er zu der Staatsanwältin, er habe den Eindruck, sie wolle seinen Mandanten „öffentlich bloßstellen.“ Die Staatsanwältin wies Eisenberg als Antwort darauf hin, dass es nicht ehrenrührig sei, wenn jemand schwul ist.
Mutmassliche Opfer mussten ihr Privatleben offenlegen
Erschreckend, dass im Jahr 2021 und in Berlin ein Verteidiger darüber aufgeklärt werden muss, dass Schwulsein nichts Schlimmes ist. Die Vertreterin der Nebenkläger*innen, Barbara Petersen, wies zudem darauf hin, dass die Zeugen und mutmasslichen Opfer in dem Prozess bereits ihr Privatleben bis ins kleinste Detail offenlegen mussten: Wie sie Sex haben, ob sie psychisch krank sind, und welche sexuell übertragbaren Krankheiten sie haben. Dass die Zeugen homosexuell sind, wurde jedes mal vor Gericht thematisiert und wurde in ihrem Fall als völlig normal gehandhabt.
In einer Verhandlungspause fragte ich den Verteidiger Professor König, ob es aus seiner Sicht denn schlimm sei, schwul zu sein. „Ich habe nichts gegen Schwule“, antwortete dieser, „und es ist nicht schlimm, schwul zu sein. Aber wenn es jemand nicht sagen will, dann muss man es respektieren.“ Hätte der HIV-Arzt am ersten Verhandlungstag, dem 19. April, auf die Frage der Staatsanwältin, ob er MSM sei, also als Mann der Sex mit Männern habe, mit „Ja“ geantwortet, dann hätte es am heutigen Tag niemand mehr thematisiert. Damals war Eisenberg sofort dazwischen gegangen und hatte eine Antwort verhindert.
Urteil am 25. November erwartet
Am Ende des Verhandlungstages wurde der Beweisantrag unter Ausschluss der Öffentlichkeit verlesen. Das Gericht berät nun bis zum nächsten Verhandlungstag, ob dem Antrag stattgegeben wird, und ob das Gericht es entscheidend für seine Urteilsfindung hält, dass die sexuelle Orientierung des Angeklagten geklärt wird. Der Prozess scheint unterdes kein Ende zu finden: Der Richter hat weitere sieben Prozesstage angeordnet, ein Urteil soll nun erst voraussichtlich am 25. November fallen.
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