15. Verhandlungstag

Prozess gegen HIV-Arzt: Glaubwürdigkeit der mutmasslichen Opfer auf dem Prüfstand

13. Aug. 2021 Sascha Suden
Bild: Sally B

Am 15 Verhandlungstag gegen den Berliner HIV-Arzt, der wegen des Vorwurfs des sexuellen Missbrauchs vor Gericht steht, beurteilte ein Gutachter die Glaubwürdigkeit der mutmasslichen Opfer. Sascha Suden berichtet für SIEGESSÄULE über den Prozess

Mit Spannung wurde die Aussage von Prof. Günter Köhnken erwartet, der als Gutachter vom Angeklagten beauftragt wurde. Die zentrale Frage an den Zeugen war: Wie glaubwürdig sind die mutmasslichen Opfer im Prozess gegen den angeklagten HIV-Arzt, dem vorgeworfen wird fünf seiner Patient*innen während der Behandlung sexuell missbraucht zu haben? Der Glaubwürdigkeits-Gutachter wurde berühmt als Sachverständiger im Kachelmann-Prozess, bei dem gegen den Wettermoderator Jörg Kachelmann der Vorwurf der Vergewaltigung erhoben wurde. Der Moderator war in diesem Prozess freigesprochen worden. Schon am Beginn seiner Aussage wies Köhnken daraufhin, dass eine Beurteilung der Glaubwürdigkeit der mutmasslichen Opfer für ihn nicht einfach gewesen sei und betonte, dass er mit seinen Methoden an Grenzen gestoßen sei.

Wer intelligent ist, kann sich alles ausdenken

Ein Problem bei der Beurteilung sei gewesen, dass die Nebenkläger Martin und Lars „hochintelligente, erfahrene Personen“ seien. Lars sei ein „überdurchschnittlicher, intelligenter Zeuge, der Erfahrungen“ mit sexuellen Handlungen habe. Dadurch wären beide fähig gewesen, ihre Aussage, also den Vorwurf des Missbrauchs, in „der Komplexität auch dann zu produzieren, wenn sie es nicht selbst erlebt hätten.“ Soll heißen: Wenn jemand intelligent ist und Sex hat, kann er sich alles ausdenken. Die Schlussfolgerung des Professors lautete: „Ich kann nicht zurückweisen, dass es erfunden ist.“ Dies bedeute zwar nicht, dass „die Aussage falsch ist“, er könne aber auch nicht sagen, dass sie richtig sei.

Die Staatsanwältin brachte es mit einer Frage auf den Punkt: „Was ist ihr Sachverstand, der über meinen hinausgeht?“ Denn für die Erkenntnis, dass intelligente Menschen, die über sexuelle Erfahrungen verfügen, sich so etwas ausdenken können, hätte es keines Gutachters bedurft. Köhnken geriet bei seiner Antwort ins Stottern.

Vor allem wäre es sinnvoll gewesen, wenn Professor Köhnken sich mit schwuler Sexualität auseinandergesetzt hätte. Bemerkungen, die der Angeklagte gegenüber Patient*innen angeblich getätigt haben soll, wie zum Beispiel, dass der Patient im Anus „schön sauber gespült sei", wie Lars berichtete, seien laut Köhnken verschieden interpretierbar und müssen nicht unbedingt als sexualisiert gedeutet werden. Dem widersprach Anwältin Weyers, die einwarf, dass eine solche Bemerkung einen eindeutig sexualisierten Kontext hat, „wenn es ein Schwuler zu einem Schwulen sagt.“

Gutachter ist mit einem „bekennenden Schwulen“ befreundet

Die Staatsanwältin wollte deshalb von dem Gutachter wissen, welche Erkenntnisse er über die schwule Szene in Berlin habe. Seine knappe Antwort: „Ich bin mit einem bekennenden Schwulen befreundet und aus dem was ich lese“. Ausserdem interessiere ihn „nicht die Bohne was in der Schwulenszene im Bett passiert“.

Doch genau das ist ein Problem, denn in diesem Prozess geht es um schwule Sexualität und schwule Codes. Und vor allem die Frage: Was wird als übergriffig empfunden und was nicht?

Dabei würde die sexuelle Orientierung des Angeklagten eine wesentliche Rolle spielen. Nicht umsonst hat Verteidiger Eisenberg bislang peinlich genau darauf geachtet, dass die sexuelle Orientierung des Angeklagten nicht thematisiert wird . Und auch die Nebenklägervertreterinnen versäumten bislang die sexuelle Orientierung des Angeklagten z. B. anhand von Aussagen ehemaliger Sexualpartner zu thematisieren.

Kein Erkenntnisgewinn für den Prozess

Verteidiger Eisenberg versuchte am Ende Köhnken noch dazu zu bewegen, festzustellen, dass die Zeugen Lars und Martin unglaubwürdig seien, weil sie ihre Aussagen zu den vermeintlichen Missbrauch durch den Angeklagten mehrmals in kleinen Details geändert hatten. Doch der Sachverständige blieb auch nach mehreren Nachfragen bei der Aussage, dass dies nicht ungewöhnlich sei. Nach weiterem Insistieren wurde es dann auch Richter Kleingünther zu bunt: „Wenn ihnen eine Antwort nicht gefällt, dann müssen sie das zur Kenntnis nehmen“. Wieder sagte ein Zeuge nicht im Sinne der Verteidigung aus. Was bleibt von diesem achtstündigen Verhandlungstag? Der Angeklagte hätte sich den Gutachter sparen können, weil er zu diesem Prozess nichts beitragen konnte. Das Gericht muss entscheiden, ob es den Zeugen glaubt.

Der Prozess wird am 2. September fortgesetzt.

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