Bericht vom vierten Prozesstag

Prozess gegen HIV-Arzt: Will der Angeklagte als hetero gelten?

4. Mai 2021 Sascha Suden
Bild: Sascha Suden
Verhandlungsraum im Amtsgericht Tiergarten

Im Prozess gegen einen Berliner HIV-Arzt wegen mutmaßlichem sexuellen Missbrauch wurde am vierten Verhandlungstag der Angeklagte von der Staatsanwältin befragt. Außerdem wurde die Aussage eines bisher unbekannten Zeugen über den angeblichen Missbrauch durch den angeklagten Arzt verlesen. Sascha Suden berichtet für SIEGESSÄULE vom Prozess

Am 4. Prozesstag gegen den Berliner HIV-Arzt im Amtsgericht Tiergarten gab es eine Überraschung, mit der keiner der Prozessbeobachter*innen gerechnet hatte. Zu Beginn fragte die Staatsanwältin den Angeklagten, ob er sich auch als MSM bezeichnet, also als ein Mann der Sex mit Männern hat. Sein Verteidiger Eisenberg schmetterte die Frage ab: „Sie greifen in die Intimsphäre meines Mandanten ein“. Die Verwunderung im Saal war groß. Ein 62-jähriger, der eine schwule Kiezpraxis betreibt, möchte sich nicht äußern, ob er selbst schwul ist.

Sein Verteidiger, der am vorigen Prozesstag den Zeugen bis aufs Intimste befragte, reklamiert nun eine Intimsphäre für das Offensichtliche. Schließlich ist der Angeklagte auch eine bekannte Größe im schwulen Berliner Nachtleben. Natürlich muss sich niemand zu seiner sexuellen Orientierung äußern, aber das Verweigern der Antwort wirkte unsouverän. Oder deutete es auf eine mögliche Taktik der Verteidigung hin? Soll der Angeklagte als nicht homosexuell gelten, weil er dann quasi auch keine sexuelle Erregung bei den Tatvorwürfen verspürt haben kann?

Entbindung von der Schweigepflicht

Ein entscheidender Punkt wurde kontrovers diskutiert: die Schweigepflicht. Denn ein Arzt oder eine Ärzt*in unterliegt der Schweigepflicht. Schließlich beruht das Verhältnis zwischen Ärzt*in und Patient*in auf Vertraulichkeit. Eine Ärzt*in macht sich strafbar, wenn sie Informationen der Patient*in, die sie aus der Behandlung erfuhr, öffentlich macht und weitergibt. Dass bis zu diesem Zeitpunkt eine Entbindung von dieser Schweigepflicht fehlte, fiel der Staatsanwältin auf. Sollte der angeklagte Arzt gegenüber der Ärztekammer oder der Polizei etwas ausgesagt haben, was die Patient*innen und mutmaßlichen Opfer betraf, hätte er sich damit möglicherweise strafbar gemacht. Deshalb fragte die Staatsanwältin, die sichtlich um Aufklärung bemüht ist, nach.

Die aufbrausende Reaktion des Verteidigers Eisenberg deutete darauf hin, dass es auch keine Schweigepflichtsentbindung gab. Er drohte sogar: „Ich werde die Ablösung der Staatsanwaltschaft beantragen“. Es käme der Verteidigung sicher gelegen, eine engagierte und taffe Staatsanwältin auszuwechseln. Sollte es keine Entbindung von der Schweigepflicht geben, dann müsse er tatsächlich jedesmal überlegen, was er oder der Angeklagte sagen können, ohne sich strafbar zu machen. Eisenberg redete sich in Rage. Dass die Verteidigung massiv behindert werde, dass er jetzt mit der Schere im Kopf überlegen müsse, welche Fragen er stellen könne. Doch Richter Reingünther fuhr dazwischen und rief ihn zur Ordnung. Er ließ sich jedoch nicht beruhigen. „Jetzt halten Sie mal den Mund“, blaffte er zur Staatsanwältin, die gar nichts gesagt hatte. Eine „furchtlose und unvoreingenommene Verteidigung“ sei so nicht mehr möglich, „wenn da so eine sitzt“, und zeigte auf die Staatsanwältin. Am Ende verkündete der Richter, dass der angeklagte Arzt bei dem Prozess wegen der Wahrheitsfindung von der Schweigepflicht entbunden sei. Und beruhigte damit die Gemüter.

Befragung vor der Ärztekammer

Eisenbergs Kollege, Verteidiger König, bezichtigte danach in seiner Einlassung wieder den Zeugen Martin* (Name von der Redaktion geändert) der Lüge und benannte weitere Zeugen, die er hören will, während Eisenberg mit seinem Stuhl kippelte. Die Nebenklägervertreterin Undine Weyers war froh darüber, dass ein Vertreter der Ärztekammer gehört werden soll. Nachdem sich Zeuge Martin nach seinem mutmasslichen Missbrauch durch den Arzt an die Ärztekammer gewandt hatte, kam es dort 2013 zu einer Befragung. Die damalige Verteidigerin des Arztes hatte laut Undine Weyers zu diesem Zeitpunkt noch erklärt, dass der Angeklagte sich geständig zeige und sich wegen der Vorfälle in psychatrische Behandlung begeben wolle. Für den Prozess wurde die Verteidigung ausgewechselt und die Strategie scheint nun zu sein, dass der Angeklagte unschuldig sei.

„Mir war klar, dass es übergriffig war, aber ich war eingeschüchtert“.

Dann erklärte die Nebenklägervertreterin Weyers dass sich ein weiterer Zeuge bei ihr gemeldet habe. Sie verlas seinen Brief. Alexander* (Name von der Redaktion geändert) sei aus Wien und beruflich 2012 und 2013 in Berlin gewesen. Da er HIV-positiv sei, habe er sich eine Schwerpunktpraxis gesucht. Die Praxis des angeklagten Arztes wurde ihm empfohlen. Beim ersten behandelnden Arzt habe er sich gut und kompetent behandelt gefühlt. Doch bei dem Angeklagten habe er direkt ein komisches Gefühl im Bauch gehabt, als dieser ihn mit den Worten begrüßt haben soll: „Schätzchen, warum hast du so hohe Leberwerte?“ Er habe sich ganz ausziehen sollen, was ihn beschämt habe. „Es folgten immer mehr Finger und eine bewusste Stimulation“. Dann soll der Angeklagte seinen Penis gerieben haben. „Mir war klar, dass es übergriffig war, aber ich war eingeschüchtert“. Er habe überlegt, ob es sich um einen Einzelfall handele, aber auf dem Onlineportal Jameda, auf dem Patient*innen auch Bewertungen zu Ärzt*innen abgeben können, sah er Kommentare, die nahelegten, dass es eventuell ähnliche Fälle gegeben haben könnte. „Mir war bewusst wieviel Geschädigte als Lügner hingestellt wurden“. Deshalb habe er sich gemeldet und stehe für eine Aussage zur Verfügung.

Danach beantragte die Nebenklägervertreterin Ollmann den Ausschluss der Öffentlichkeit bei der Vernehmung ihres Mandanten. Dieser soll seit 2015 in der Praxis gewesen und während der Behandlung ohne medizinische Indikation proktologisch untersucht worden sein. Deshalb wolle sie die Öffentlichkeit nicht dabei haben. Zu den Pressevertreter*innen meinte sie: „Ich habe nichts gegen die Presse“, aber der Schutz ihres Mandanten ginge vor. Verteidiger Eisenberg wollte hingegen die Öffentlichkeit dabei haben: „Die Anklage wurde öffentlich verlesen. Sexuelle Vorlieben liegen auf der Hand. Und dem Angeklagten wurde schon die Öffentlichkeit zugemutet,“ seine Begründung. Die Staatsanwaltschaft folgte dem Antrag der Nebenklägervertreterin Ollmann. Die Öffentlichkeit wurde vom Gericht ausgeschlossen.

Die Verhandlung wird am kommenden Montag, dem 10. Mai, fortgeführt.

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