Bericht vom zwölften Verhandlungstag

Prozess gegen HIV-Arzt: Ärztekammer versuchte Praktizierungsverbot zu erwirken

25. Juni 2021 Sascha Suden
Bild: canva

Ein Berliner HIV-Arzt muss sich zur Zeit vor Gericht verantworten, weil ihn fünf Patient*innen angezeigt haben. Sie werfen ihm vor, er habe sie während der Behandlung missbraucht. Am zwölften Verhandlungstag (24.06.) sagte ein Zeuge der Ärztekammer aus. Demnach versuchte die Ärztekammer zu erreichen, dass der Angeklagte bis zur Klärung der Vorwürfe nicht weiter praktizieren dürfe. Sascha Suden berichtet für SIEGESSÄULE über den Prozess

„Die Schilderungen fand ich krass“, sagte der Zeuge Paul (Name von der Redaktion geändert) von der Ärztekammer vor Gericht. Er äußerte sich zu den ersten Vernehmungen, die er 2012 mit den mutmaßlichen Opfern des HIV-Arztes geführt habe. Der Zeuge arbeitet als Jurist bei der Ärztekammer und ist für Berufsrechtsverletzungen von Ärzt*innen zuständig. Er entscheidet, ob die bei ihm erhobenen Vorwürfe weiter verfolgt und ein internes Ermittlungsverfahren eingeleitet werden.

Als er von den ersten Vorwürfen gegen den Angeklagten erfuhr, war er erst ein Jahr bei der Ärztekammer beschäftigt. Die damalige Leiterin des Zentrums für sexuelle Gesundheit vom Bezirksamt Charlottenburg hatte sich laut seiner Aussage bei ihm Ende 2012 gemeldet, um ihn darauf hinzuweisen, dass ihr mehrfach von Patienten mitgeteilt wurde, dass es bei dem Arzt angeblich „zu übergriffigen Handlungen“ gekommen sei. Auch verwies sie auf den Leiter des Wohnprojekts von gleich und gleich e. V., bei dem ebenfalls Vorwürfe eingegangen sein sollen. Dabei habe es sich um „Minderjährige gehandelt“, die nicht bereit gewesen seien, eine Aussage zu machen. Ihren Schilderungen zufolge, so berichtete der Zeuge, hätten sie sich mutmaßlich ohne erkennbaren Grund z. B. bei einem Husten komplett entkleiden müssen und es seien Untersuchungen durchgeführt wurden, die für sie nicht nachvollziehbar gewesen wären. Da die vermeintlichen Opfer aber anonym bleiben wollten, seien es laut Aussage „abstrakte Vorwürfe“ gewesen, die man nicht weiter hätte verfolgen können.

Der Zeuge betonte: Hätte die Arztekammer zu diesem Zeitpunkt „konkrete Hinweise bekommen", wäre man diesen auch nachgegangen. Den Schilderungen der „minderjährigen und heranwachsenden Patienten“ habe die Leiterin gelaubt, da sie damals mit dem Angeklagten in „einem Qualitätszirkel“ war. In Qualitätszirkeln schließen sich Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen zusammen, um die eigene Behandlungspraxis kritisch zu analysieren und die Therapie der Patient*innen zu verbessern. Dort sei auch das Thema sexuelle Verhältnisse von Ärzt*innen zu Patient*innen und zu Mitarbeiter*innen angesprochen worden. Dabei soll der angeklagte Arzt angeblich gesagt haben: „Das wäre nicht schlimm, er hätte es auch schon gemacht“. 

Ärztekammer leitete Verfahren ein

Paul konnte laut seiner Aussage schließlich doch tätig werden, als sich kurze Zeit später sechs mutmaßliche Opfer des Angeklagten gemeldet hatten, von denen vier im Prozess als Nebenkläger*innen auftreten. Einige der Anrufer*innen sollen berichtet haben, dass bei der rektalen Untersuchung gleichzeitig ihr Penis stimuliert worden sei. Daraufhin leitete Paul eine formelle Untersuchung ein. Nach seinen Aktennotizen hätte der Vorstand der Ärztekammer weitere Schritte besprochen und ein Verfahren eingeleitet. Die Aussagen des Zeugen Paul vor Gericht deckten sich dabei mit den Zeugenaussagen der mutmaßlichen Opfer über den vermeintlichen Missbrauch in den vorangegangenen Prozesstagen.

Bereits nach den ersten Vorwürfen von Patienten, die anonym bleiben wollten, habe der Zeuge mit dem HIV-Arzt telefoniert. Paul habe dem Angeklagten mitgeteilt, „dass wir nichts unterstellen, aber es ist ein sensibler Bereich“, der aufzuklären sei. Er habe den Arzt auch daraufhin hingewiesen, dass es „für die Patienten nachvollziehbar" zu sein habe, „warum sie sich entkleiden müssen und an den Genitalien berührt werden, um Missverständnisse zu vermeiden“. Ob ein Missverständnis vorlag, ist eine der entscheidenden Fragen in diesem Missbrauch-Prozess. Denn die Taktik der Verteidigung ist, dass es sich lediglich um Missverständnisse gehandelt habe und alle Untersuchungen medizinisch indiziert gewesen seien. Der Arzt sei in dem Telefonat „schockiert und betroffen“ gewesen und hätte zu den Vorwürfen gemeint: „Das trifft nicht zu“.

Nachdem sich allerdings Patienten direkt bei der Ärztekammer gemeldet hatten, führte diese Ermittlungen durch, die fast ein Jahr dauerten. Die Ärztekammer plante eine „Gefahrenabwehrsverfügung“ zu erlassen, die den Arzt verpflichtet hätte, dass er nur noch in Anwesenheit einer weiteren Person behandeln darf. Doch dazu kam es nicht, da die damalige Anwältin des Angeklagten „einen Schritt auf uns zu machte“. Sie hatte eine „geständige Einlassung erwogen“ und stellte eine Selbstverpflichtungserklärung des Arztes in Aussicht. In den Akten der Ärztekammer fand sich diese auch: „Hiermit verpflichte ich mich Patienten nur noch in Anwesenheit von anderen Personen zu behandeln und zu untersuchen“, stand darin. Unterschrieben vom Angeklagten. Auch die gesamten Mitarbeiter*innen der Praxis verpflichteten sich in einer weiteren Erklärung dazu. Die Anwältin stellte zudem in Aussicht, dass der angeklagte Arzt eine Psychotherapie machen werde.

Zeuge scheiterte am LAGeSo

Doch für Paul waren die Vorwürfe so gravierend, dass trotz der angekündigten Maßnahmen der damaligen Verteidigerin die Ärztekammer nicht auf ein berufsrechtliches Verfahren verzichten konnte. Und das auch bei der „Schwere der Vorwürfe ein gerichtliches Verfahren nicht“ umgangen werden könne. Der Zeuge habe auch versucht beim Landesamt für Gesundheit und Soziales (LAGeSo) ein Ruhen der Approbation zu erwirken, damit der Arzt während der Ermittlungen und des späteren Verfahrens nicht weiter praktizieren darf. Die Mitarbeiterin des LAGeSo lehnte dies ab, „vermutlich nach der Schutzschrift der Verteidigung“, so Pauls Überzeugung. Demnach schloss sich das LAGeSo anscheinend der Meinung der Verteidigung an, dass „die Zeugenaussagen abgesprochen sein sollen“. Sollte dies zutreffen, könnte das Amt durch sein Handeln möglicherweise weitere Patient*innen gefährdet haben, in dem sie dem Arzt erlaubten bis zu Klärung der Vorwürfe weiter zu praktizieren. In der Bundesärzteordnung steht dazu folgendes: „das Ruhen der Approbation kann angeordnet werden, wenn gegen den Arzt wegen des Verdachts einer Straftat, aus der sich seine Unwürdigkeit oder Unzuverlässigkeit zur Ausübung des ärztlichen Berufs ergeben kann, ein Strafverfahren eingeleitet ist“. Dies ließe aufgrund der massiven Vorwürfe gegen den Angeklagten eigentlich wenig Spielraum. Es bedarf für das vorläufige Ruhen keines Urteils, sondern es reicht die Einleitung eines Strafverfahrens.

Der Zeuge strebte auch an, dem angeklagten Arzt eine Ausübung seiner Lehrtätigkeit zu verbieten. Er scheiterte damit vor dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, die seiner Auffassung nicht folgten. Am Anfang des Prozesses war der Eindruck entstanden, dass die Ärztekammer die Opfer nicht ernst genommen habe. Dies korrigierte der Zeuge Paul an diesem Verhandlungstag. Er habe versucht, dafür zu sorgen, dass der Angeklagte bis zur gerichtlichen Klärung der Vorwürfe nicht mehr praktizieren darf. Doch er scheiterte am Lageso. Sein Anliegen erst einmal eine „Gefahrenabwehr“ für Patienten zu betreiben, sei es durch eine Selbstverpflichtungserklärung oder aber dem Ruhen der Approbation lief ins Leere. Als dann Strafanzeige erstattet wurde, seien ihm die Hände gebunden gewesen, weitere Maßnahmen zu erwirken, da das berufsrechtliche Verfahren solange ruhe, bis ein Urteil gesprochen wird. Also bereits seit über 8 Jahren.

Der nächste Prozesstag ist am 1. Juli.

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