Pflege und Sterbebegleitung

Die Frage nach der Pflege: Zurück ins queerfeindliche Elternhaus?

12. Nov. 2024 Ulrike Wagener
Bild: Picture Alliance / Jens Büttner
Die Frage nach der Pflege ist für Angehörige mit großem psychischen Druck verbunden.

Krankheit, Demenz und Tod in der Familie sind vor allem in der Generation von heute 50- bis 65-Jährigen allgegenwärtiges Thema. Gerade für Queers geht damit auch eine erneute Konfrontation einer oft nicht einfachen Familiengeschichte und eine Auseinandersetzung mit der eigenen Identität einher. Ulrike Wegener sprach mit Betroffenen und Expert*innen über lange Wege zurück ins Elternhaus und die Hürden des Pflegeheims

Junis Spitznagel hat in kurzer Zeit erst seine Großmutter, dann den Vater beim Sterben begleitet. „Ich habe in dieser Zeit viel zurückgesteckt“, sagt der 31-jährige trans Mann. Wie er leben viele queere Menschen ganz bewusst in Berlin. Wenn Angehörige pflegebedürftig werden, entscheiden sich etliche dafür, öfter wieder zurückzureisen. Für Spitznagel hieß das eine neunstündige Fahrt in die baden-württembergische Provinz. „Die Frage nach der Pflege ist für Angehörige mit großem psychischen Druck verbunden: Muss ich meine Eltern pflegen oder kann ich das in andere Hände geben? Und wenn man zum Beispiel für eine Zeit zurück aufs Land geht: Wie kann ich dort mit meiner Queerness umgehen?“, sagt Andreas Schütz. Er ist Pflegeberater in Berlin, schwul und hat das Portal Queer Pflege gegründet. Hier kann man queersensible Pflegedienste und -einrichtungen suchen und sich austauschen. Wenn ein Elternteil pflegebedürftig wird und der Angehörige ist ein schwuler Mann mit Kind, ist es wichtig, einen Pflegedienst zu finden, der offen und respektvoll mit dieser Situation umgeht“, sagt Schütz.

„Die Frage nach der Pflege ist für Angehörige mit großem psychischen Druck verbunden: Muss ich meine Eltern pflegen oder kann ich das in andere Hände geben?“

In der Pflegeausbildung sind LGBTIQ*-Themen kein Pflichtfach. Der schwule Krankenpfleger Volker Wierz unterrichtet Kurse dazu in Berliner Pflegeschulen und bei Pflegediensten. „Das Gesundheitssystem ist ein Spiegel der Gesellschaft und sehr hierarchisch organisiert. Da gedeihen Diskriminierungen noch besser“, sagt er. Sein Ziel sei es, den Pflegekräften deutlich zu machen, dass wir alle heteronormativ sozialisiert würden. In der Pflege äußere sich das etwa in alltäglichen Fragen, wie jeweils gegengeschlechtlich nach dem Ehemann oder der Ehefrau oder die nach der „richtigen Mutter“, wenn ein lesbisches Paar mit einem Kind in die Klinik komme. „Ganz schwierig wird es bei trans* Menschen oder nicht binären Menschen, da hört die Akzeptanz oft auf“, sagt Wierz. Es sei wichtig offen dafür zu sein, wie man es besser machen kann.

Spitznagel hat mit dem Palliativpflegedienst gute Erfahrungen gemacht: „Die Pflegekräfte dort nehmen die Menschen so an, wie sie sind.“ Er spricht offen über sein Transsein und steht auch innerhalb der Familie zu sich. Trotzdem: „Das Abschiednehmen kann die eigene Transition beeinflussen“, sagt er. Seine Großmutter litt an altersbedingter Leukämie, Spitznagel hat die palliative Pflege in den Wochen vor ihrem Tod übernommen und ist bei ihr eingezogen. Er hat die Großmutter gewaschen, ihr beim Toilettengang geholfen und ihr schmerzlindernde Medikamente gegeben. „Meine Oma erlebte oft nachts panische Atemnot. Dann war ich da“, erinnert er sich.

Die Zeit, in der ein Mensch im Sterben liegt, ist eine Ausnahmesituation. „Man sagt, dass in solchen Zeiten die Familie enger zusammenrückt. Aber eigentlich läuft in einer Krise alles automatisch ab“, so Spitznagel. Er sei in dieser Zeit oft mit seinem abgelegten weiblichen Namen angesprochen worden. Seine Mutter habe auf die Traueranzeige seinen gewählten und den abgelegten Namen wie einen Doppelnamen geschrieben. „So eine Traueranzeige ist auch ein Outing“, sagt Spitznagel. Auf der Beerdigung habe ein Verwandter darüber nachgesinnt, ob Junis zum Islam konvertiert sei und deshalb seinen Namen geändert habe. Junis Spitznagel versucht es mit Humor zu nehmen, queere Lebensweisen sind in seiner Heimat kaum vorstellbar.

Pflege der Eltern ist oft Grenzüberschreitung

Der Vater habe später, als er selbst im Sterben lag, Spitznagels Hormonbehandlung mit seiner Chemotherapie verglichen. Er habe nicht verstanden, dass Junis das macht, obwohl er einen gesunden Körper hat. „Das war schwer auszuhalten. Medizinische Behandlungen und deren Nebenwirkungen bedeuteten für ihn Terror. Für mich ist die Hormontherapie Selbstbestimmung“. Der Vater habe in der Zeit als einziger konsequent „Junis“, also seinen gewählten Namen verwendet. Mit ihm war das Verhältnis aber aus anderen Gründen angespannt. „Bei ihm konnte ich mir die körperliche Pflege nicht vorstellen“, berichtet Junis. Für den Pfleger Volker Wierz ist das normal: „Die wenigsten Kinder können die körperliche Pflege der Eltern übernehmen. Für viele überschreitet das Intimsphären, aber auch Ekelgrenzen“, sagt er. Spitznagel blickt versöhnlich auf seine Familie: „Sie haben vieles erlebt und das ziemlich gut gemacht.“ Jetzt macht er eine Fortbildung zur Trauerbegleitung.

Bild: Joachim Gern
Volker Kitz, Autor des Buchs „Alte Eltern“.

Der schwule Schriftsteller Volker Kitz hat lange damit gehadert, dass er seinen dementen Vater nicht zu Hause gepflegt hat. Das Altersheim in Berlin nannte er deshalb immer „die Residenz“. Der 49-Jährige hinterfragt in seinem literarischen Essay „Alte Eltern. Über das Kümmern und die Zeit, die uns bleibt“ hergebrachte Lösungsmodelle wie das der „Rückkehr“, damit meint er die Idee, dass Kinder für die Pflege der Eltern zurückkehren ins Elternhaus. „Queere Kinder leben oft ein flexibleres Lebensmodell. Ich habe keine Kinder, einen flexiblen Beruf. Aber ich fühlte auch eine besondere moralische Verantwortung, weil mein Vater gut zu mir war“, sagt Kitz. Damit meint er, dass er seine Homosexualität immer akzeptiert, seinen Partner liebevoll angenommen hat. „Immer wenn mir jemand sagte: ‚Wir haben Vater zu Hause gepflegt‘, hat mir das einen Stich versetzt.“ Heute sagt er: „Es kann hilfreich sein, von der gemeinsamen Geschichte mit den Eltern – egal ob positiv oder negativ – zu abstrahieren.“ Für Kitz war das Lesen eine Hilfe, um die Frage zu beantworten: „Wie kümmere ich mich um meinen Vater?“ Ihn beruhigt etwa die „Tragetaschentheorie der Fiktion“ von Ursula K. Le Guin. „Es gibt nicht nur die linearen Geschichten. Ich kann auch die losen Enden in eine Tasche stecken und sie treten darin in Beziehung.“ Diese Bilder haben ihm geholfen beim Tasten nach neuen Lösungen. Kitz reflektiert die Beziehung zu seinem Vater, den frühen Tod seiner Mutter und damit auch die Abwesenheit von Frauen, die sonst oft Pflegearbeit übernehmen.

Ein großes Thema für Kitz ist die Scham. „Mit meinem Vater habe ich nie über die großen schambehafteten Dinge gesprochen, dabei gab es sie: den Verlust seiner Frau, den schwulen Sohn, die Demenz.“ Richtig „aufgeräumt“, wie er sagt, hat Kitz erst in seiner Beerdigungsansprache, dort hat er in seinem kleinen Heimatort erstmals öffentlich über sein Schwulsein gesprochen. „Es kann eine Chance sein: Wenn man merkt es geht zu Ende, dass man aufhört, herumzudrucksen.“ Andere queere Menschen werden von ihrer Herkunftsfamilie nicht akzeptiert. „Wenn ein Elternteil auf meine Unterstützung angewiesen ist, kommt oft die Frage auf: ‚Könnte meine Lebensrealität für ihn eine Zumutung sein?‘ Es besteht die Gefahr, dass wir als queere Menschen uns selbst zurücknehmen“, sagt Krankenpfleger Volker Wierz.

„Es besteht die Gefahr, dass wir als queere Menschen uns selbst zurücknehmen.“

Remo Silverpaw hat sich aus diesem Grund gegen die Pflege der Mutter entschieden: „Meine Erzeugerin ist mit 59 Jahren pflegebedürftig, sie verlässt seit eineinhalb Jahren das Haus nicht mehr“. Silverpaw ist 32 und nutzt keine Pronomen. Der Pflegedienst habe auf den Wunsch der Mutter hin Kontakt aufgenommen, um Silverpaw zu informieren, wie es um sie steht und der Bitte, sich an der Pflege zu beteiligen. Doch die Mutter habe das Schwulsein nie akzeptiert, Silverpaw schon als kleines Kind als Schwuchtel bezeichnet und im Teenageralter ein Regal geworfen. „Ich werde ihr nicht mehr die Chance geben, mich anzugreifen“, sagt Silverpaw. Eine Person vom Pflegedienst sei am Telefon sehr verständnisvoll gewesen. Eine andere habe gesagt: „Ihre Mutter braucht Sie jetzt, sie war ja auch immer für Sie da.“

„Es kann sein, dass ein Elternteil sich selbst als aufopfernd empfunden hat und für das Kind war es die Hölle.“

Der Krankenpfleger Volker Wierz kennt solche Sätze. Ich versuche, Pflegekräfte zu sensibilisieren, immer beide Seiten anzuhören. „Es kann sein, dass ein Elternteil sich selbst als aufopfernd empfunden hat und für das Kind war es die Hölle.“ Silverpaw ist mit sich im Reinen. „Mit meinem Mann habe ich besprochen: Wenn sie im Sterben liegt und den Wunsch äußert, mich zu sehen, werde ich hingehen. Ich finde, jeder Mensch sollte in Frieden sterben können.“ Der wichtigste Rat von Andreas Schütz: „Hör auf deinen Bauch.“ In der Beratung zähle er immer die Möglichkeiten auf, die es gibt. „Niemand muss umziehen, um die Pflege eines Angehörigen zu übernehmen. Und niemand muss ins Pflegeheim. Es lässt sich auch so organisieren, dass die Person zu Hause umfassend versorgt ist.“ Und: „Wenn Sie Ihre Mutter regelmäßig anrufen oder Papierkram für sie übernehmen: Auch das ist Pflege!“

Die Frage vom eigenen Altern

Volker Kitz denkt auch über das eigene Alter nach und wer sich einmal um ihn kümmern wird. Viele queere Menschen in seinem Alter haben keine Kinder. „Ich denke, es könnte eine Lebensaufgabe sein, eine Person zu finden, die Mitgefühl für einen hat“, sagt er. Rein queere Pflegeheime gebe es aktuell nicht. Der Lebensort Vielfalt ist mit seiner betreuten Wohngemeinschaft für schwule Männer mit Pflegebedarf und Demenz fast einzigartig. „Es ist wichtig, dass die Menschen darauf vertrauen können, dass die Person, die zu einem nach Hause kommt, mit der eigenen Lebensrealität etwas anfangen kann“, sagt Schütz. Deshalb sei es schon wichtig, wenn ein Dienst niedrigschwellig Offenheit zeige, indem er beispielsweise einen Regenbogensticker am Auto kleben hat. „Viele queere Pflegebedürftige haben immer noch starke Berührungsängste, trauen sich nicht über ihre Partner*innen oder eine HIV-Erkrankung zu sprechen, manche verstecken sogar ihre Bilder“, sagt Schütz. Oftmals würden Hilfsangebote aus Angst vor Ablehnung gar nicht erst in Anspruch genommen. Um dem entgegenzuwirken, gründet er jetzt selbst einen queersensiblen Alltagshilfedienst.

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