40 Jahre HIV und Aids

Pflege in der Aids-Krise: „Die Stationen waren voller Leben“

1. Dez. 2021 Paula Balov
Bild: Emmanuele Contini
Ina Unrau und Dr. Sebastian Dieckmann

In den 80er-Jahren war die Diagnose HIV meist noch gleichbedeutend mit schweren Krankheitsverläufen und Tod. Zudem gab es wenig Wissen über HIV/Aids und mögliche Übertragungswege. Gerade für Pflegekräfte, die auf den HIV-Stationen Patient*innen betreuten, stellte das eine große Herausforderung dar. Wir fragten Mitarbeiter*innen des Auguste-Viktoria-Klinikums und des Hospizdienstes Tauwerk e. V., wie sie diese Zeit damals erlebt haben

40 Jahre ist es nun her, seit die ersten Aids-Fälle in den USA beschrieben wurden. Kaum eine Berufsgruppe hat damals die Leidenswege und Ängste von HIV-Positiven und Aidskranken so nah miterlebt wie Pflegekräfte. In den 80er-Jahren in der HIV-Versorgung zu arbeiten bedeutete, täglich jungen Menschen zu begegnen, für die eine HIV-Diagnose den sicheren Tod bedeutete. Mangelndes Wissen über das neue Virus und fehlende Hoffnung bestimmten den Arbeitsalltag.

„Wir waren entsetzt über diese neue Krankheit“

„Wir waren entsetzt über diese neue Krankheit. Wir wussten alle ziemlich wenig darüber“, erinnert sich Ina Unrau. Sie ist Stationspflegeleiterin des HIV-Zentrums im Vivantes Auguste-Viktoria-Klinikum (AVK). Seit 1984 arbeitet sie in der pflegerischen Versorgung von HIV- und Aidspatient*innen. Durch Zufall kam sie damals auf die Infektiologie. Daraus wurde eine Entscheidung: „Ich wollte nie mehr etwas anderes machen.“

Dem fehlenden Wissen und der Unsicherheit standen Tatendrang und Kreativität gegenüber. Ihre Anfangszeit auf der Station 12 B des AVK beschreibt Ina Unrau als eine Ära, in der im Gegensatz zu heute der Pflege noch viele Möglichkeiten bei der Patient*innenbetreuung offenstanden: Angehörige konnten in den Krankenzimmern übernachten, was normalerweise nur auf Kinderstationen gestattet ist. Auch für Sonderwünsche war viel Platz – Pflegende konnten sich voll und ganz auf die Bedürfnisse der Patient*innen einstellen. „Wir haben einfach gemacht, ohne groß zu fragen. Wir wussten, dass wir Rückendeckung haben.“

Schöneberger Modell

Ermöglicht hatte das ein Modellprojekt, wodurch das AVK begann nach dem Vorbild des General Hospital in San Francisco zu arbeiten. Dort hatten Mediziner*innen und Pflegekräfte schon 1983 erkannt, dass ein neuer Ansatz für die Versorgung von Aidspatient*innen nötig war, der neben medizinischen auch psychologische und soziale Aspekte berücksichtigte. Die Vernetzung des AVK mit niedergelassenen Praxen, Psycholog*innen, Pflegediensten und der Berliner Aids-Hilfe erwies sich als ausgesprochen konstruktiv und wurde unter dem Namen „Schöneberger Modell“ international zum Vorbild. Anlässlich von 40 Jahren HIV veröffentlichte Vivantes auf YouTube einen Film, der die Bedeutung des AVK und des Modells beleuchtet.

40 Jahre HIV/AIDS | Auguste-Viktoria-Klinikum – eine Institution gegen das Virus, Dokumentation auf youtube

Dass Pfleger*innen sich in dieser Form um ihre Patient*innen kümmern konnten, lag auch an einer grundsätzlich anderen Situation: Damals konnte das medizinische Personal frei von wirtschaftlichen Zwängen arbeiten. Da die Krankheit so neu und beängstigend war, gab es auch finanzielle Unterstützung aus der Politik.

Die Pflegeteams waren außerdem sehr gut besetzt, was zur Entlastung aller beitrug, berichtet Ina Unrau. Während einer Schicht teilte sie einmal gemeinsam mit einem Kollegen Abendessen auf den Zimmern aus. Dabei bekam sie mit, dass ein Patient im Sterben lag. Sie fragte seinen Partner, der ebenfalls im Zimmer war, ob sie bei ihm bleiben sollte – sie spürte, dass er emotionalen Beistand brauchte. „Er hat nur genickt. Ich hab dann zu meinem Kollegen gesagt: Ich geh da jetzt rein, und es kann sein, dass ich ganz lange nicht wieder rauskomme. Das war kein Problem. Und so kam es dann auch.“

„Ich hab zu meinem Kollegen gesagt: Ich geh da jetzt rein, und es kann sein, dass ich lange nicht wieder rauskomme“

Die wirtschaftliche Flexibilität wirkte sich vor allem auf die Behandlungen aus. „Wir haben manchmal Patienten über lange Zeit mit den teuersten Medikamenten behandelt, niemand hat uns gebremst“, berichtet Dr. Sebastian Dieckmann. „In anderen Ländern hätten viele diese Medikamente wegen ihrer so geringen Lebensaussicht gar nicht mehr bekommen.“ Er ist Facharzt für Innere Medizin und begann Ende der 1980er Jahre seine Karriere am AVK, wo er im gleichen Team wie Ina Unrau arbeitete.

Offenes Miteinander auf den Stationen

Im Gegensatz zu den Pflegekräften hatten Ärzt*innen weniger Kontakt zu den Patient*innen. Trotzdem waren die Beziehungen zueinander enger, verglichen mit anderen Stationen – nicht zuletzt, weil HIV-Positive und Aidskranke über einen langen Zeitraum im AVK blieben. Wenn sich Dr. Sebastian Dieckmann an seine Eindrücke von der Station 12 B erinnert, kommt ihm vor allem ein Satz in den Sinn: „Sie war voller Leben.“

Damals hatte er auch auf einer Station gearbeitet, wo überwiegend sehr alte, chronisch kranke Menschen lagen. „Das war ein recht anonymes Leiden“, erinnert er sich. „Wenn ich dann aber im selben Nachtdienst auf ein Zimmer der HIV-Station gerufen wurde, sah ich Luftballons, Plüschpuppen, mal lagen auch zwei in einem Bett – es waren ganz individuelle Räume und interessante Menschen, die was zu erzählen hatten.“

„Es waren individuelle Räume und interessante Menschen, die was zu erzählen hatten“

Jeden Sonntag wurde der Aufenthaltsraum umdekoriert und ins „Café Viktoria“ verwandelt. Hier gab es nicht nur Kaffee und Kuchen, sondern auch kulturelles Programm. Unter anderem performten hier Romy Haag und Rosenstolz für die Patient*innen.

Durch seine Tätigkeit im AVK ist Dr. Sebastian Dieckmann zum ersten Mal direkter mit schwulen Männern und queeren Lebenswelten in Kontakt gekommen. Mit den Jahren kamen auch immer mehr neue, schwule Kollegen ins Team. „Das hat mir einen sehr entspannten Umgang mit der queeren Welt geebnet. Es war ein sehr offenes Miteinander. Manchmal wurde ich liebevoll als ‚Stino‘ aufgezogen“, sagt er schmunzelnd. Ressentiments gegenüber queeren Menschen oder Berührungsängste mit Aids hatte er aber auch vor seiner Zeit im AVK nicht. Das gesellschaftliche Klima, in dem Aids als „Schwulenseuche“ stigmatisiert wurde, beeindruckte ihn nicht.

Vorurteile kamen meist vom Umfeld

Ina Unraus damaliges Team war ebenfalls sehr aufgeschlossen. „Bei uns hatte niemand Berührungsängste, wir waren offen für alle Lebenswelten.“ Es gehörte zum Alltag, sich gegenseitig über neue Erkenntnisse aufzuklären und zu informieren, wie sich Pflegende am besten schützen können. Das half dabei, potenzielle Ängste abzubauen. Mit der Erfahrung wuchs auch das Selbstbewusstsein: Da es praktisch nie vorgekommen war, dass sich Pflegekräfte mit HIV angesteckt hatten, verschwand auch die Unsicherheit in dieser Frage.

Außerhalb des AVK sah das allerdings anders aus – Vorurteile kamen meist vom Umfeld. Die Ehemänner einiger Pflegerinnen drängten ihre Frauen dazu, die Arbeit in der HIV-Versorgung zu beenden. „Einige haben das dann tatsächlich auch gemacht“, erzählt Ina Unrau.

Mythen über die Übertragbarkeit von HIV hielten vor allem bei Menschen, die nicht im medizinischen Bereich arbeiten, zum Teil noch sehr lange: So wurde vor einigen Jahren eine HIV-positive Patientin aus einem anderen Krankenhaus ins AVK verlegt. Die Fahrer des externen Transportunternehmens trugen Schutzkleidung, mitsamt Mundschutz und Handschuhen. „Das hat mich in dem Moment echt sprachlos gemacht“, erinnert sich Ina Unrau.

Kämpferin gegen das Stigma

Scheu und Ignoranz gegenüber HIV-positiven Menschen hat auch die franziskanische Ordensschwester Hannelore gegen Ende der 80er-Jahre in einem westfälischen Krankenhaus mitbekommen. Sie beschloss etwas dagegen zu tun und gründete mit ihrer Mitstreiterin Schwester Juvenalis den Hospizdienst Tauwerk e. V. in Berlin. „Zu dieser Zeit kamen seitens der Kirche nicht gerade wohlwollende Töne zum Thema HIV und Aids“, erzählt sie. „Da haben wir gesagt: Genau deshalb müssen wir andere Zeichen setzen, uns solidarisch zeigen und tatkräftige Hilfe anbieten.“ An der Ordenskleidung trägt sie stolz einen Anstecker mit der Aids-Schleife, „denn genau da gehört sie hin“.

Dass sie als katholische Nonne nicht nur für Menschen mit HIV und Aids, sondern auch für die LGBTIQ*-Community Flagge zeigt, sorgt immer wieder für Irritation. Als unermüdliche Kämpferin gegen das Aids-Stigma hat sie sich zur Lebensaufgabe gemacht, Aidskranke bis zum Tod zu begleiten. Für ihre Arbeit wurde Schwester Hannelore 2007 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.

„Wissen bringt Sicherheit“

In ihren ersten Jahren in Berlin sammelte sie als Krankenschwester Erfahrungen im Aids-Bereich, lernte mehr über die Krankheitsbilder, knüpfte Kontakte und beobachtete, welche Bedarfe und Versorgungslücken es gab. Sie stellte fest, dass Aidskranke vor allem in der letzten Lebensphase viel Aufmerksamkeit brauchten, ihr Umfeld jedoch oftmals überlastet war. Deshalb schrieb sie ein Konzept für die ambulante Sterbebegleitung.

Bis heute ist das Tauwerk der einzige Hospizdienst in Berlin mit einem HIV-Schwerpunkt. Dabei sind nicht nur Pflege, sondern auch Wissensvermittlung zentrale Themen. Deshalb werden die Ehrenamtlichen unter anderem für LGBTIQ*-Belange sensibilisiert. „Wissen bringt Sicherheit“, findet Schwester Hannelore. „Wenn ich mich mit einem Thema nicht beschäftigt habe, kann es passieren, dass ich mich innerlich von der Person, die ich begleiten soll, distanziere. Das darf nicht passieren.“

Bild: Emmanuele Contini
Schwester Hannelore, Tauwerk e. V.

Nach wie vor fehlt gesellschaftliche Akzeptanz

Trotz des medizinischen Fortschritts und der inzwischen sehr guten Lebenserwartung sieht sie noch viele Baustellen – vor allem, was die gesellschaftliche Akzeptanz betrifft, die ihrer Wahrnehmung nach offenbar rückläufig ist. Während noch vor zehn Jahren viele Betroffene offen zu ihrer HIV-Infektion standen, lernt sie jetzt häufig Menschen kennen, die aus Angst vor Ausgrenzung die Erkrankung verheimlichen. „Nach vierzig Jahren Aids-Bewegung finde ich das schon bezeichnend.“

Ihr Engagement reicht deshalb auch heute noch weit über die pflegerischen Tätigkeiten hinaus. In Workshops und Vorträgen klärt sie zum Beispiel Schüler*innen oder werdende Pflegekräfte über HIV und Aids auf.

„Jeder Mensch, den wir begleitet haben, hat Spuren hinterlassen“

Sterbebegleitung ist für Schwester Hannelore in erster Linie Arbeit mit Lebenden – mit Menschen, die eine Lebensgeschichte und Bedürfnisse haben. Es bedeutet ihr viel, genau hinzuhören und manchmal zwischen den Zeilen zu lesen, um herauszufinden, wie sie einem Menschen Freude bereiten kann. Im Büro des Tauwerk-Vereins hängt ein Gedenkvorhang mit kleinen Namenskärtchen der Verstorbenen. „Wenn ich am Schreibtisch sitze, fällt mein Blick manchmal auf den einen oder anderen Namen, und dann kommen Erinnerungen wieder“, erzählt sie. „Jeder Mensch, den wir begleitet haben, hat Spuren hinterlassen.“

Auch Ina Unrau haben die viele Lebens- und Leidensgeschichten geprägt. Viele Freundschaften sind entstanden und viele Abschiede musste sie nehmen. Das Team nahm Rücksicht darauf und gab einander stets Raum, um zu trauern.

Ina Unrau war oft davon beeindruckt, wie gefasst viele Aidspatient*innen mit dem Tod umgingen. „Diese Stärke hat mich die ganzen Jahre getragen“, sagt sie. Und dann waren da noch die vielen schönen Momente – etwa als ein Patient auf dem Flur ausgelassen tanzte. „Es sind eben auch so viele tolle Sachen passiert. Ich glaube, nur deshalb konnten wir das alles aushalten.“

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