queer@school: Queere Bildungsarbeit an Berliner Schulen
Ende letzten Jahres stand die Förderung des Bildungsprojekts queer@school noch auf der Kippe, obwohl ihre Expertise bei vielen Schulen gefragt und gebraucht wird. SIEGESSÄULE-Redakteurin Selina Hellfritsch begleitet die Initiative und spricht mit den Ehrenamtlichen über die Bedeutung von queerer Bildungs- und Antidiskriminierungsarbeit
Es ist 10 Uhr morgens, nach und nach strömen die Schüler*innen der elften Klasse einer Schule in Berlin-Lichtenberg in den Raum. Ein Stuhlkreis wurde bereits aufgebaut. Gegenüber der Tafel sitzen David Waltersbacher, Karam Wadner und Marie Springborn von der Initiative queer@school. Das Team beginnt mit einer Vorstellungsrunde: Jede Person soll sich mit Namen und Pronomen vorstellen. Die erste Rückfrage: „Was genau sind Pronomen?“ Marie Springborn erklärt: „Ich identifiziere mich beispielsweise als nicht binär und möchte nicht, dass ihr für mich Pronomen wie er/sie/dey verwendet. Sagt einfach Marie zu mir.“ Zögernd stellen sich die Schüler*innen vor. Erst als Marie Springborn danach wieder das Wort ergreift, von der eigenen Coming-out Geschichte erzählt und welchen Wert es hat, mit dem richtigen – oder eben keinem – Pronomen angesprochen zu werden, scheint es mehr Verständnis zu geben.
Queer@school ist ein Projekt des Jugendnetzwerks Lambda Berlin-Brandenburg e.V. und bietet queere Bildungs- und Antidiskriminierungsarbeit in Form von Workshops an Berliner Schulen an. Finanziert wird das Projekt über „Berlin tritt ein für Selbstbestimmung und Akzeptanz geschlechtlicher und sexueller Vielfalt“ (IGSV) und somit über den Berliner Haushaltsplan. Ende letzten Jahres war das Projekt durch Kürzungen gefährdet, was aber durch öffentlichen Druck verhindert werden konnte. „Wenn ich an meine Schulzeit zurückdenke, hätte es mir geholfen, wenn es mehr Sichtbarkeit für queere Menschen gegeben hätte“, erinnert sich David Waltersbacher. Laut einer repräsentativen Online-Studie von 2023 zum Thema „LGBTIQ Equality“ von der EU-Grundrechtsagentur (FRA) gaben 66 Prozent der deutschen Befragten an, dass in ihrer Schulausbildung nie LGBTIQ*-Themen angesprochen wurden. „Ich will dazu beitragen, dass queere Menschen ein angenehmeres und besseres Umfeld erleben“, sagt Karam Wadner gegenüber SIEGESSÄULE.
„Lehrer*innen sind oft mit Coming-outs von Schüler*innen überfordert und fühlen sich nicht in der Lage, über sexuelle und geschlechtliche Vielfalt zu reden.“
Das besondere bei queer@school: Durch den Peer-to-Peer-Ansatz führen Ehrenamtliche im Alter zwischen 19 und 27 Jahren die Workshops selbst durch. Marie Springborn wiederum arbeitet hauptamtlich als Projektkoordination und lernt neue Teammitglieder ein. Die Initiative bekommt an die 130 Anfragen im Jahr und kann mit den aktuellen Ressourcen gerade mal 20 umsetzen. „Lehrer*innen sind oft mit Coming-outs von Schüler*innen überfordert und fühlen sich nicht in der Lage, über sexuelle und geschlechtliche Vielfalt zu reden, oder sie wollen dem Thema einfach mehr Raum geben“, erzählt Anna Krüger – auch ehrenamtlich aktiv. „Es kann aber auch sein, dass es diskriminierende Vorfälle gab.“ Marie Springborn ergänzt: „Wir versuchen Schulen bestmöglich zu beraten. Wenn wir keine Kapazität haben, leiten wir Lehrmaterial weiter und verweisen auf andere Organisationen.“ In Berlin gibt es – mit queer@school – fünf Bildungsträger, die Mitglied des Bundesverbands Queere Bildung e.V. sind und sich für diese Themen einsetzen.
Reizthema genderneutrale Toiletten
An diesem Donnerstag nehmen rund 40 Schüler*innen am Workshop teil, die wiederum in zwei Gruppen unterteilt werden. „Wir wollen einen Raum schaffen, in dem Jugendliche offen über Gefühle und Probleme sprechen können, ohne dass eine Lehrperson dabei ist“, sagt Anna Krüger. Die Ehrenamtlichen lesen der Klasse verschiedene Situationen vor, wobei die Schüler*innen auf einer Ampel-Skala entscheiden können, ob sie dieses Ereignis als diskriminierend empfinden. Der Großteil der Klasse scheint sich meist einig zu sein, während nur wenige sich trauen, eine andere Meinung zu vertreten. Beispielsweise sind mit Ausnahmen von zwei Schüler*innen alle gegen genderneutrale Toiletten – ein Thema, das immer wieder die Gemüter erhitzt. Trotzdem wird hier zum Austausch und Dialog angeregt. „Wenn ich das Gefühl habe, dass ein Denkprozess angestoßen wurde, bin ich zufrieden. Wir versuchen die Jugendlichen dazu anzuregen, sich über Ausgrenzung und Diskriminierung Gedanken zu machen“, so Anna Krüger.
„Wir versuchen die Jugendlichen dazu anzuregen, sich über Ausgrenzung und Diskriminierung Gedanken zu machen.“
Fokus auf Queer Joy
Eine repräsentative Befragung des FRA von 2020 zeigt, dass der Großteil der queeren Menschen zu ihrer Schulzeit nicht out war oder ist. Auch die Elftklässler*innen der Lichtenberger Schule machen den Eindruck, als sei niemand queer und das Thema weit von ihnen entfernt. Die Stimmung ändert sich allerdings, als eine Schülerin von ihrer eigenen Erfahrung erzählt: „Ich bin bisexuell. In der achten Klasse wurden meine Exfreundin und ich dafür ausgelacht, händchenhaltend durch die Schule zu laufen.“ Die ersten Reaktionen der anderen Schüler*innen: Sie sei zu jung für eine Beziehung gewesen und Beziehungen sollten an Schulen nicht öffentlich gezeigt werden. Daraufhin vermittelt das Team von queer@school zwischen den Mitschüler*innen. „Es ist wichtig, auf die Dynamik vor Ort zu achten und den Raum für Austausch und Erklärung zu schaffen“, erklärt Anna Krüger.
„In Zukunft wollen wir das Thema ‚Queer Joy‘ mehr in den Vordergrund rücken. Wir wollen den queeren Schüler*innen vermitteln: Ihr seid toll, so wie ihr seid.“
Bei der abschließenden anonymen Fragerunde bedanken sich dann doch einige Schüler*innen für den Workshop und bezeichnen ihn als lehrreich, auch ein paar inhaltliche Rückfragen werden gestellt. Marie Springborn sagt: „In Zukunft wollen wir das Thema ‚Queer Joy‘ mehr in den Vordergrund rücken. Wir wollen den queeren Schüler*innen vermitteln: Ihr seid toll, so wie ihr seid.“ Vor allem wolle das Team auch Workshops zur Vernetzung von queeren Schüler*innen-AGs ausbauen. David Waltersbacher erzählt von einem vergangenen Event: „Es war beeindruckend zu sehen, wie viel Wissen und Engagement viele queere Schüler*innen bereits mitbringen. Es ist schön zu wissen, dass es Personen gibt, die sich dauerhaft für die Queers an Schulen einsetzen.“
Für die Zukunft von queer@school wünsche sich das Team, dass sich Schulen und Lehrkräfte selbstständiger mit den Themen Antidiskriminierung, sexuelle und geschlechtliche Vielfalt auseinandersetzen und mit in Lehrpläne aufnehmen. Marie Springborn verdeutlicht: „Queere Themen sollten nicht nur als Zusatz, sondern als integraler Bestandteil der Schularbeit gesehen werden. Alle Schüler*innen profitieren davon, sich mit Identität, Begehren und Vielfalt auseinanderzusetzen sowie empathisches und diskriminierungssensibles Handeln zu lernen.“
Initiative queer@school
am 09.10. findet wieder eine Einführungsschulung für interessierte Ehrenamtliche statt
Anmeldung via queer-at-school@lambda-bb.de
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