Tarek Shukrallah im Interview

„Nicht die Ersten“: Sammelband über Bewegungsgeschichten von Queers of Color

6. Sept. 2024 Lara Hansen
Politik- und Sozialwissenschaftler*in Tarek Shukrallah.

„Nicht die Ersten“ versammelt Texte von 19 Autor*innen zu Bewegungsgeschichten queerer Schwarzer Menschen und People of Color in Deutschland von den 1980er-Jahren bis heute. Das Besondere: Die Erzählungen von Zeitzeug*innen selbst stehen im Fokus. SIEGESSÄULE-Redakteur*in Lara Hansen im Gespräch mit Autor*in und Herausgeber*in Tarek Shukrallah

Wie ist der Titel zum Band entstanden? Der bezieht sich unter anderem auf einen Auszug aus dem Gespräch mit Jin Haritaworn, in dem Jin sagt: „Wir dachten, wir wären die Ersten, aber das stimmt gar nicht.“ Wir hatten oft das Gefühl, dass wir aus dem Nichts Dinge erstreiten müssen. Dabei knüpfen unsere Kämpfe und Interventionen an die unserer „Elders“ an. Viele meiner Elders und Wegbereiter*innen sprechen in dem Buch über ihre Kämpfe und Biografien. Andere Texte von Mitstreiter*innen und Wegbegleiter*innen beschäftigen sich unter anderem damit, wie wir uns an einander erinnern können, uns anerkennen können, und von einander lernen können.

„Queere Aktivist*innen of Color schufen und schaffen Räume, die intersektionalen Einschluss erlauben, in denen wir nicht kompromittieren müssen.“

Geschichte, geschrieben von Queers of Color, ist eine Intervention „im Angesicht der scheinbaren Unmöglichkeit der eigenen Existenz“, schreibst du. Kannst du das erklären? Wir leben in einer Welt, in welcher der scheinbare Erfolg einer integrationistischen schwul-lesbischen Bürgerrechtsbewegung einer maximalen Verschärfung von Anti-Migrationsgesetzen, eskalierender rassistischer Gewalt auf den Straßen und in den Parlamenten gegenübersteht. In Berlin sehen wir, wie Kieze vermeintlich queerer und bunter werden und die Mieten dabei steigen. Bei dieser Gentrifizierung werden insbesondere arme, lohnabhängige BIPoC verdrängt, und müssen schicken Eigentumswohnungen weichen. Es scheint so, als wäre es gar nicht möglich, als queere Person of Color zu existieren, wenn Schwule, Lesben und trans* Menschen als scheinbar weißes Kollektiv auf der einen Seite, Schwarzen Menschen und PoC auf der anderen Seite gegenübergestellt und gegeneinander ausgespielt werden. Diesem Widerspruch verweigern sich die Autor*innen dieses Sammelbands. Queere Aktivist*innen of Color schufen und schaffen Räume, die intersektionalen Einschluss erlauben, in denen wir nicht kompromittieren müssen, ob wir gerade Queers oder BIPoC sind. Sie artikulieren Perspektiven, die eine andere Welt denkbar machen.

Diesen Widerspruch thematisierst du insbesondere rund um die Jahre des Mauerfalls. Die Aktion Standesamt, einer der ersten aktivistischen Anstöße zur Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe, fand nur wenige Tage vor den rassistischen Pogromen Rostock-Lichtenhagen statt… Es ist in derselben Woche passiert. Das sind Ereignisse, die unterschiedlicher nicht hätten sein können – wie ich finde, symbolisch. 1992 war die Zahl rassistischer Übergriffe gegen migrantische Personen, Jüd*innen, BIPoC, Sinti*zze und Rom*nja so hoch wie nie nach dem Nationalsozialismus. Anschläge auf Wohnhäuser und Orte von migrantischen Communitys waren schlicht Alltag. Schlimmer noch – die damalige Bundesregierung belohnte rassistischen Hass mit dem Asylkompromiss. 1992 ist dasselbe Jahr, in dem die Institutionalisierung von der schwul-lesbischen Bürgerrechtsbewegung ihren ersten wichtigen Meilenstein zurücklegt, und die radikale Uni-Bewegung der 70er und 80er durch integrationistische Ansätze ablöst.

Würdest du sagen, dass die Schwulen- und Lesbenbewegung, die damals aus dieser linken Uni-Blase hervorgegangen ist, weiß und exklusiv war? Die damalige Neue Linke führte intensive Auseinandersetzungen um das Verhältnis von sexueller Unterdrückung und Klassenherrschaft. Rassismus war dabei aber Seitennotiz und abseits von – oft rassistischen – Bezugnahmen fand da nicht viel statt. Migrant*innen und BIPoC waren kaum an diesen Bewegungen beteiligt. Insbesondere in der Schwulenbewegung kamen BIPoC sonst gar nicht vor. In der feministischen Bewegung veränderte sich das erst ab Mitte der 80er Jahre vor allem durch Interventionen Schwarzer Lesben. Daraus ist im Anschluss an die Publikation „Farbe bekennen“ (1986) unter anderem die ADEFRA als Organisation Schwarzer Lesben hervorgegangen.

„Das ist auch etwas, das mein Buch tun will: generationsübergreifende Beziehungen herstellen, uns miteinander wieder in Beziehung setzen.“

Einer deiner Anstöße zum Buch war ein Gespräch mit der legendären Schwarzen Historikerin Katharina Oguntoye, die ausschlaggebend am Buch „Farbe bekennen“ mitgewirkt hat. Inwiefern hat sie dich inspiriert? Wir sind beide Queers of Color, kommen aus verschiedenen Bewegungen mit unterschiedlichen Erfahrungen und unterscheiden uns auch in unserer Positionierung. Katharina und ihre Mitstreiter*innen haben vieles von dem erst möglich gemacht, an das unsere heutigen Kämpfe anknüpfen. Das ist auch etwas, das mein Buch tun will: generationsübergreifende Beziehungen herstellen, uns miteinander wieder in Beziehung setzen – auch in Anerkennung unserer Verschiedenheit. So können wir überlegen: Was brauchen wir, um breiter, solidarischer, kämpferischer zusammenkommen zu können?

Welche Kontinuität siehst du in den verschiedenen Bewegungen? Die Kontinuität ist die Erfahrung von Gewalt, aber auch von Empowerment durch Solidarität, durch das Zusammenkommen vor der Erfahrung gemeinsamer Kämpfe.

„Wir müssen nicht gleich sein, wenn wir zusammenkommen im Kampf für eine andere Welt.“

Du sagst, ihr erzählt Geschichte „von unten“? Geschichte von unten zu erzählen, bedeutet den Dissenz mit den Verhältnissen sichtbar zu machen. Hinzuhorchen, wo Ausschlüsse stattgefunden haben im weißen schwul-lesbischen Marsch durch die Institutionen. Audre Lorde schlägt vor, unsere Differenz zum Ausgangspunkt für solidarische Beziehungen zu machen. Die radikale Anerkennung, dass wir verschieden sind, aber dass wir alle unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen leiden. Das ist auch der Geist, der das Buch durchzieht: Wir müssen nicht gleich sein, wenn wir zusammenkommen im Kampf für eine andere Welt. Die Geschichten von Queers of Color, die in meinem Band zusammengebracht sind, zeigen das deutlich. Es sind sehr unterschiedliche Biografien, Perspektiven und Erzählungen. Alle eint aber eine Kritik an Rassismus, Queerfeindlichkeit und Ausbeutung. Mehr noch: Alle zeigen in ihren Geschichten von Empowerment, gemeinsamen Kämpfen und solidarischen Freiräumen eine Perspektive auf eine bessere Welt für alle auf.

Was können heutige Aktivist*innen von den Generationen vor ihnen lernen? Wir haben Geschichte und wir sind nicht allein. Wir sehen heute, wie integrationistische Forderungen scheitern. Emanzipation und soziale Gerechtigkeit gibt es eben nicht auf dem Rücken von anderen. Wir leben in einer Welt, in der die Verhältnisse so stark miteinander verbunden sind, dass wir uns nur miteinander befreien können. Darum müssen unsere Kämpfe als queere Bewegungen antikapitalistisch, antirassistisch und dekolonial sein.

Tarek Shukrallah (Hrsg.): „Nicht die Ersten – Bewegungsgeschichten von Queers of Color in Deutschland“
Verlag Assoziation A
224 Seiten, 18 Euro

Buchpräsentation:
07.09., 18:00
Stadtteilzentrum Familiengarten (Oranienstr. 34)

Bild: Assoziation A
Tarek Shukrallah (Hrsg.): „Nicht die Ersten – Bewegungsgeschichten von Queers of Color in Deutschland“.

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