Nicht binäre Lebensgeschichte: „Blutbuch“ von Kim de l'Horizon
Kim de l'Horizon wurde am 17.10. als erste nicht binäre Person für den Roman „Blutbuch" mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. Der*die Schweizer Autor*in nutzte seinen*ihren Auftritt bei der Preisverleihung, um auf die Situation der Frauen in Iran aufmerksam zu machen, indem er*sie sich aus Solidarität die Haare abrasierte. Anja Kümmel erklärt, warum der Roman „Blutbuch" eine aufregend neue Art des queeren Erzählens einläutet
Sprache ist Möglichkeitsraum und Bedrohung zugleich – so empfindet es die nicht binäre Erzählfigur in Kim de l’Horizons autofiktionalem Debütroman „Blutbuch“. Aufgewachsen in der Schweizer Provinz, wird sie immer wieder konfrontiert mit (hetero)normativen Zurichtungen: „Das Kind muss sich bald entscheiden. Die Leute fragen. NA DU, WAS BIST DENN DU? BUB ODER MEITSCHI?“ Andererseits ist die „Meersprache“ („Meer“ steht im Berndeutschen für „Mutter“) aber auch ein Ort der Geborgenheit. Und so, durch diese umgangssprachliche Verknüpfung von dem Wort Meer mit Weiblichkeit, eröffnet das Ozeanische und Fließende in dieser Verbindung im „Blutbuch“ zugleich unerwartete utopische Räume.
Während das erwachsene Erzähl-Ich mehr und mehr die ihm zugeschriebene Männerrolle hinterfragt und sein queeres Begehren mittels Dating-Apps in Zürich auslebt, läuft parallel dazu eine zweite, rückwärts gerichtete Suchbewegung ab: Das „Du“, das „Blutbuch“ adressiert, bezieht sich auf Grossmeer, die Großmutter der Erzählfigur, die an Demenz erkrankt ist, und „über Bande“ auch auf Meer, die Mutter des Erzähl-Ichs. Die Erkundung der weiblichen Abstammungslinie wird für Kim zur „Suche nach einer Fremdsprache in den Wörtern, die einem zur Verfügung stehen“ – und für uns zu einem so herausfordernden wie beglückenden Leseerlebnis.
Die Inspirationsquellen, die de l’Horizon anführt, reichen von Paul B. Preciado über Frank Ocean bis Donna Haraway, die Tonarten des Buches von rotziger Popliteratur bis hin zu getragen-philosophischen Passagen. Telefon- und Chatprotokolle, Abhandlungen über nationalistische Parkkultur (die Blutbuche in Grossmeers Garten spielt eine nicht unwesentliche Rolle im Text), lyrisch verdichtete Passagen und auf Englisch verfasste Briefe bilden einen wilden Genre-Mix, der nonchalant die klassische Romanform sprengt. All das passiert literarisch raffiniert und auf hohem Reflexionsniveau – leichte Kost ist „Blutbuch“ definitiv nicht, weder formal noch inhaltlich.
Echos der Vergangenheit
Alltägliche und weniger alltägliche Gewalterfahrungen werden umkreist, im Zentrum stehen jene Traumata, über die in Kims Familie entweder geschwiegen oder nur floskelhaft gesprochen wird: das Verschwinden zweier Schwestern der Großmutter, deren Abwesenheit ihr Leben geprägt hat. Daneben stößt die Erzählfigur aber auch auf jede Menge Queerness in der eigenen Familiengeschichte: die lesbischen Liebesbeziehungen der Mutter, die „Männerfüße“ von Grossmeer, ihr Bartwuchs während der Schwangerschaft. Oder auch das Mädchen, das für seinen Vater die Hühner schlachtet, weil dieser das Töten von Tieren nicht übers Herz bringt. An allen Ecken und Enden begehren Kims Vorfahrinnen gegen traditionelle Geschlechterrollen auf, lange bevor das Erzähl-Ich beginnt sich zu schminken und die Nägel zu lackieren.
Zugleich handelt „Blutbuch“ auch von der Unmöglichkeit, die richtigen Worte zu finden für die Wunden der Vergangenheit. De l’Horizons „Versuch, einen zungengrossen Unterschlupf in das Bestehende, in das Vererbte zu hauen, gross genug, dass mensch darin tanzen kann“, ist vollauf gelungen – gerade weil er so unprätentiös das eigene Scheitern mitdenkt.
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