„Mut zur Veränderung“: Interview mit dem Berliner CSD e. V.
Zum ersten Mal in der Geschichte des Berliner CSD fand die große Pride-Parade in 2020 vor allem digital statt. Das sorgte auch für Unmut in der Community. Paula Balov sprach im Vorfeld des „digitalen CSD“ mit drei Vorständ*innen des CSD e. V. – Jasmin Semken, Dana Wetzel und Ralph Ehrlich
Jasmin, Dana und Ralph, was versprecht ihr euch von einem digitalen CSD? Jasmin Semken: Die Corona-Krise hat die bisherige Tradition des Berliner CSDs gebrochen – in den letzten 20 Jahren ist er immer größer, schneller, teurer geworden. Wir haben schon Anfang des Jahres darüber nachgedacht, ob nicht die Zeit reif wäre für eine Veränderung. Dann kam Corona und wir hatten keine andere Wahl. Wir wünschen uns deshalb vom digitalen CSD, dass er Mut zu Veränderung macht: Vielleicht werden wir die digitalen Elemente im nächsten Jahr beibehalten oder die Finanzierung ganz anders gestalten als bisher, das wird sich zeigen. Dana Wetzel: Unser CSD wird eine Mischform: Es wird ein laufendes Online-Programm geben, aber auch kleinere Aktionen in der Stadt. Wir haben im Gegensatz zum Global Pride einen Berlin-Bezug und wollen dieses Jahr bewusst regional bleiben. Viele queere Szene- und Kiezstrukturen leiden unter der Corona-Krise und denen wollen wir eine Plattform geben.
„In den letzten 20 Jahren ist der Berliner CSD immer größer, schneller, teurer geworden.“
Wie sieht so eine kleine CSD-Aktion im Nollendorfkiez aus? Ralph Ehrlich: Es wird eine ortsfeste Demonstration mit begrenzter Teilnehmer*innenanzahl sein. Wir werden auf der Straße mit Transparenten und Sprühkreide sichtbar und laut sein. Es wird Performances und Reden geben und wir interviewen die queeren Kulturschaffenden im Kiez. Uns begleiten mobile Kamerateams, damit die Aktionen vor Ort auch im CSD-Stream ausgestrahlt werden. Damit das alles überschaubar bleibt, starten wir vorher einen Aufruf und teilen die Interessierten in unterschiedliche Zeitfenster ein. Wir haben ein Hygienekonzept und außerdem schon Ideen, wie wir mehr Platz in der Motzstraße schaffen können. Am Ende soll ein klares Bild entstehen: Dass es dem Berliner CSD eindeutig nicht nur um Party geht.
„Uns wird vorauseilender Gehorsam unterstellt, aber so war das nicht.“
Um welche Inhalte geht es beim CSD 2020? Jasmin: Ein großes Thema wird Solidarität mit LGBTI* in Polen sein. Wir fordern vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und vom Europäischen Parlament sich endlich mit der Problematik zu befassen. Ein weiteres Thema sind Regenbogenfamilien und die peinlichen Befragungen, denen Lesben ausgesetzt sind, wenn sie ihr eigenes Kind adoptieren möchten. Ralph: Wir wollen die aktuelle Rassismusdebatte aufgreifen und fordern, dass das Wort „Rasse“ aus dem Grundgesetz gestrichen wird. Die Abschaffung des „Transsexuellengesetzes“ wird ebenfalls ein Thema sein.
Stimmen aus der Community, zum Beispiel Johannes Kram, kritisieren, ihr hättet bei der Entscheidung, den CSD digital durchzuführen, die Community nicht involviert. Wie seht ihr das? Dana: Nein, das stimmt nicht. Wir haben viel diskutiert, sind von Meeting zu Meeting gesprungen und haben es uns nicht leicht gemacht. Uns wird vorauseilender Gehorsam unterstellt, aber so war das nicht. Wir haben uns gefragt: Können wir wirklich verantworten, dass sich Leute beim CSD mit dem Coronavirus anstecken? Können wir verantworten, dass Leute aufgrund der Ansteckung sterben? Wir sind dabei zu dem klaren Ergebnis gekommen: Nein. Ralph: Ich bin HIV-positiv und da mache ich mir schon so meine Gedanken. Damit ich lange lebe, muss ich mir gut überlegen, ob ich eine zusätzliche Infektion riskieren kann. Die Ängste HIV-positiver Menschen müssen wir auch wahrnehmen.
„Sobald die Abstands- und Hygieneregeln aufgehoben sind, werden wir eine Laufdemonstration organisieren.“
Euch wird auch vorgeworfen, keine Alternative vorgeschlagen zu haben ... Dana: Das ist so nicht richtig. Wir haben in der Pressemitteilung erklärt: Sobald die Abstands- und Hygieneregeln aufgehoben sind, werden wir eine Laufdemonstration organisieren. Das wurde leider oft überlesen.
Heißt das, ihr seid dazu bereit, noch in 2020, jenseits vom Pride am 25. Juli, einen klassischen CSD zu organisieren, sollten Großdemonstrationen ohne Hygienemaßnahmen wieder möglich sein? Jasmin: Es hängt von den Kapazitäten ab, ob es ein CSD in der gewohnten Größe wird. Aber eine reine Laufdemonstration ohne Schnickschnack ist auf jeden Fall drin.
Auf die Kritik von Johannes Kram habt ihr in Social-Media-Kommentaren recht abweisend reagiert, warum? Jasmin: Mich hat enttäuscht, dass Kritiker*innen wie Johannes Kram nicht mit uns gesprochen haben. Wir haben oft eingeladen an Vorstandssitzungen teilzunehmen und eine Pressekonferenz gegeben, nachdem wir beschlossen haben auf einen überwiegend digitalen CSD auszuweichen. Das wären gute Gelegenheiten gewesen, Missverständnisse aus dem Weg zu räumen.
„Es werden oft die Menschen vergessen, die aufgrund psychischer Probleme oder einer Behinderung nicht an CSDs teilnehmen können.“
Eine andere Kritik ist, dass bei einem virtuellen CSD nur diejenigen einschalten, die schon Teil der Community sind und darüber hinaus nicht genügend Öffentlichkeit entsteht. Was macht ihr, um Menschen außerhalb der queeren Filterblase zu erreichen? Dana: Wir werden in den gängigen, großen Online- und Printmedien präsent sein. Der digitale CSD wird nicht nur im Internet ausgestrahlt, sondern auch im Radio und im Fernsehen: Wir arbeiten mit Alex TV zusammen. Was den öffentlichen Raum angeht: Dank der kleinen Straßenaktionen ist es der Community möglich, auch hier sichtbar zu sein. Ralph: Filterblasen gibt es auch auf Straßendemonstrationen. Sicherlich erreicht man so den einen oder anderen Passanten, aber wer wirklich nichts damit zu tun haben will, bleibt zu Hause oder macht einen Bogen um den CSD. Genauso ist es mit dem digitalen CSD: Wer ihn nicht sehen will, der schaltet auch nicht ein.
Bietet ein digitaler CSD auch Vorteile und Chancen? Dana: Absolut! Zum einen können wir die politischen Forderungen viel präsenter im Programm platzieren. Zum anderen werden oft die Menschen vergessen, die aufgrund psychischer Probleme oder einer Behinderung nicht an CSDs teilnehmen können. Dieses Jahr haben sie die Gelegenheit dabei zu sein.
„Viele glauben, wir würden den digitalen CSD nur wegen der Sponsoren machen, dabei ist es genau umgekehrt: Wir machen den digitalen CSD, obwohl wir keine Sponsoren haben.“
Wie hat sich die Corona-Krise auf die finanzielle Situation des Berliner CSD-Vereins ausgewirkt? Dana: Im März waren wir kurz davor, die Verträge zu unterzeichnen. Dann kam Corona und alle Sponsoren waren weg. Den Unternehmen geht es zurzeit eben auch schlecht. Viele glauben, wir würden den digitalen CSD nur wegen der Sponsoren machen, dabei ist es genau umgekehrt: Wir machen den digitalen CSD, obwohl wir keine Sponsoren haben. Ralph: Die drei Säulen, über die wir uns finanziert haben, die Wagen, die Gastronomie und die Sponsoren, sind weggebrochen. Zwar kostet der CSD dieses Jahr nur einen Bruchteil davon, was er sonst kostet, aber auch das muss finanziert werden: Technik, Miete, Mitarbeiter*innen ... Wir haben Anträge auf Förderung an das Land Berlin gestellt, aber auch die wurden abgelehnt. Jasmin: Es braucht einen Rettungsschirm, um nicht nur den CSD, sondern auch das Lesbisch-Schwule Stadtfest oder die Folsom zu erhalten. Berlin muss sich für die queere Szene verantwortlich zeigen.
Habt ihr bereits Ideen für den CSD 2021? Ralph: Die digitalen Elemente gefallen uns ziemlich gut. Wir könnten sie als Ergänzung beibehalten und ab 2021 anfangen den CSD zu dokumentieren. So könnte ein Berliner CSD-Archiv, sozusagen ein queeres Gedächtnis, entstehen. In jedem Fall werden wir die Erfahrungen aus diesem turbulenten Jahr nutzen – es wird keinen Stillstand geben.
Your SIEGESSÄULE needs you!
Folge uns auf Instagram
#LGBTI#Community#CSD#Pride2020#BerlinerCSD#queer#CSD2020#DigitalerCSD