Michael Sollorz' Roman „Abel und Joe“ leuchtet auch 30 Jahre später
Ein Tag und eine Nacht quer durch die Stadt. Mit der Neuveröffentlichung von Michael Sollorz‘ Debüt „Abel und Joe“ ist ein großartiger Roman des schwulen Nachwende-Berlins wiederzuentdecken. Am 13.09. liest Michael Sollorz in der Wabe Auszüge aus dem Buch
Joe ist weg. Keine Nachricht, kein Hinweis. Hat er einen neuen Liebhaber oder einfach nur genug von Abels Vielmännerei? Abel, Filmkritiker ohne sonderliche Ambitionen, hält es in der gemeinsamen Wohnung im Prenzlauer Berg nicht mehr aus und zieht los: durch Bars und Kneipen, zu den Hausbesetzern in der Rigaer Straße und zum Cruisingpark im Friedrichshain, um schließlich in einer Schwulensauna in der Kurfürstenstraße zu versacken.
Wenn man so will, ist „Abel und Joe“ eine mit Lakonie skizzierte Erkundung der beiden zwar wiedervereinten, aber grundlegend verschiedenen Stadthälften. „Ein gieriger, melancholischer und schlauer Trip, nebenbei eine Geschichte der Explosion schwulen Lebens nach dem Mauerfall“, wie die Schriftstellerin Katja Oskamp in ihrem sehr persönlichen Nachwort schreibt.
Diese verdammte diffuse Sehnsucht
Doch der 1962 in Ost-Berlin geborene Michael Sollorz schildert die wiederkennbaren Orte und Lokalitäten keineswegs in einem reportagehaften Realismus, sondern als luziden, detailgenau formulierten Tag- und Nachttraum. Denn je länger Abel durch die Stadt streunt und dabei keine sich bietende sexuelle Gelegenheiten und kein Bier auslässt, desto mehr verschwimmen reale Lust und imaginierte Begegnungen, kreuzen sich Momentaufnahmen aus den Jahren mit Joe mit denen anderer Männer, etwa der verpassten Liebe zu einem schwedischen Journalistenkollegen. Mehr noch: Immer wieder (ver)führt Michael Sollorz seine Leserschaft wie seinen Helden auf surreale Ab- und Irrwege, in denen auf grotesk-komische Weise Anspielungen auf DDR-Alltag, gesamtdeutsche Geschichte und Gegenwart oder schwules Kulturgut von Heinar Carows „Coming Out“ bis Thomas Manns „Tod in Venedig“ ineinanderfließen.
„Abel und Joe“, 1994 im leider nicht mehr existierenden Verlag rosa Winkel erstmals erschienen, war seinerzeit ein Gegenwartsroman, in dem die vielfältigen Umbrüche in dieser sich schnell verändernden Stadt literarisch komprimiert festgehalten wurden.
Sollorz schildert diesen von Trauer und Unsicherheit begleiteten Heimatverlust und den Veränderungen der (schwulen) Lebensgewohnheiten in Ost-Berlin durchaus auch mit leicht sarkastischem Humor: „Dachten die anderen auch an das kleine Land hinter den Dornen, wie es gewesen war, bis gefönte Feldforscher herbeiströmten aus Bad Beichte, Nippesstadt und anderen Postkarten-Orten. (...) Bald zogen sie wieder ab und hinterließen rigide Bräuche, deren Nutzen Abel nicht einsah. Vor elf kriecht man nicht aus dem Bau, die Ureinwohner lernten es rasch, die Pose des Zögerns und manches von der Kunst des Wegschauens.“
„Mit 'Abel und Joe' hatte Sollorz den über Jahre in Kurzgeschichten entwickelten Erzählstil erstmals in der großen Form erprobt.“
Mit „Abel und Joe“ hatte der langjährige SIEGESSÄULE-Kolumnist Michael Sollorz den über Jahre in seinen Kurzgeschichten entwickelten Erzählstil und unverwechselbaren Sound erstmals in der großen Form erprobt.
Ihm genügen wenige, aber präzise gesetzte Andeutungen, um vielschichtige Stimmungen zu schaffen und gestrandete Großstadtseelen zwischen heimeligen Kiez und den Verheißungen der Subkultur zum Leben zu erwecken. Und wie kaum einem anderen gelingt es Sollorz, schwulen Sex in all seiner Vielfalt und in unverkrampfter Deutlichkeit literarisch zu fassen. Nicht als allein pornografisch genaue Beschreibung des Aktes, sondern stets als sehr individuelle, lustvolle oder auch schmerzhafte Erfahrung und als sinnliches und die beteiligten Männer veränderndes Moment.
Auffallend ist: Sollorz‘ Charaktere sind fast immer unterwegs, suchen nach dem Glück oder verlieren es gerade. Und selbst wenn sie es gerade gepackt zu haben scheinen, mitten in der Ekstase beim Sex oder frisch verliebt: Immer mischt sich in diese lichten Momente ein Schatten von Melancholie und von Verlassensein. Diese kunstvolle Uneindeutig- wie Allgemeingültigkeit lässt „Abel und Joe“ auch nach 30 Jahren noch leuchten.
Michael Sollorz: Abel und Joe. Roman.
Mit einem Nachwort von Katja Oskamp.
Albino Verlag, 156 S., 22 Euro
Lesung: Michael Sollorz – Abel und Joe
13. September 2024, 18:00
Wabe, Danziger Str. 101, 10405 Berlin
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