Berliner Projekte Housing First Queer und Queerhome*

Maßnahmen gegen Wohnungs- und Obdachlosigkeit unter Queers

18. Dez. 2024 Birgit Leiß
Bild: Queerhome*
Queere Personen sind häufig von Wohnungslosigkeit betroffen - viele von ihnen leben in missbräuchlichen Mietverhältnissen.

In Berlin sind laut einer neuen Studie schätzungsweise 10.000 queere Menschen wohnungs- oder obdachlos. LGBTIQ* sind besonders betroffen und die bestehenden Hilfsangebote nur selten auf ihre Bedürfnisse abgestimmt. Die Berliner Projekte Housing First Queer und Queerhome* setzen sich für mehr Intersektionalität in der Wohnungsnotfallhilfe ein

Derzeit haben sie einen Klienten, der im Zelt lebt, berichtet Anjes Sanogo, Projektleitung bei Housing First Queer: „Wenn wir mit ihm ein Gespräch hatten, wissen wir genau, dass er danach bei dieser Kälte zurück ins Zelt muss.“ Der Anteil der Queers, die von Obdachlosigkeit betroffen sind, also dazu gezwungen sind auf der Straße in Parks oder U-Bahnhöfen zu schlafen, ist dabei geringer als der Anteil queerer Menschen, die Wohnungslos sind. Häufig handelt es sich um verdeckte Wohnungslosigkeit, bei der Menschen keine eigene Wohnung haben und übergangsweise im Bekanntenkreis Unterschlupf finden. Viele von ihnen leben in missbräuchlichen Mietwohnverhältnissen, wo ihnen ein Bett oder eine Couch zur Verfügung gestellt und dafür sexuelle Dienste erzwungen werden. „Psychische und körperliche Gewalt spielt oft eine Rolle, die Leute haben Angst, ihren Schlafplatz zu verlieren, wenn sie sich weigern“, so Sanogo. Am 11. Dezember 2024 veröffentlichte die Senatsverwaltung für Arbeit, Soziales, Gleichstellung, Integration und Vielfalt eine neue Studie, aus der hervorgeht, dass in Berlin schätzungsweise 10.000 LGBTIQ*-Personen wohnungs- oder obdachlos sind.

Die Wohnung kommt zuerst

Der radikale Ansatz „Housing First!“ geht davon aus, dass Menschen erst ein eigenes Zuhause brauchen und mit dieser Grundlage ihre Probleme angehen können. Die Idee kommt aus den USA und stellt den klassischen Ansatz der Wohnungsnotfallhilfe vom Kopf auf die Füße. Das Konzept: Statt Wohnungslose zuerst in verschiedenen Übergangsformen unterzubringen, um ihre „Wohnungsfähigkeit“ zu testen, wird ihnen als erstes eine Wohnung vermittelt – ohne zusätzliche Bedingungen wie einer Therapie oder ein Entzug bei Suchterkrankten. Wenn eine Wohnung gefunden ist, wird geschaut, welche weiteren Unterstützungsangebote die Betroffenen brauchen. Oberstes Ziel: der langfristige Erhalt der Wohnung.

Housing First wurde in Berlin erstmals 2018 eingeführt und von den Sozialsenatorinnen Elke Breitenbach und Katja Kipping (beide von der Partei Die Linken) vorangetrieben. Das Modellprojekt erwies sich als sehr erfolgreich, gerade für die Gruppe der von „chronischer Wohnungslosigkeit“ Betroffenen, wie es Sanogo nennt. Anschließend wurde es von der Alice-Salomon-Hochschule evaluiert und auf sechs verschiedene Zielgruppen mit unterschiedlichen Trägern ausgeweitet: Familien, HIV-Positive, Frauen und Menschen aus der LGBTIQ*-Community.

Bild: Privat
Anjes Sanogo, Projektleitung bei Housing First Queer.

Träger von Housing First Queer ist die Schwulenberatung Berlin. Bislang konnten 17 Wohnungen vermittelt werden – allesamt unbefristete Mietverträge. Derzeit werden 36 Klient*innen, wie sie bei Housing First Queer genannt werden, vom Team betreut. „Wir gehen mit Leuten zum Beispiel sämtliche Bewerbungsunterlagen durch, die bei den Vermietenden eingereicht werden müssen: Schufa, Einkommensnachweis und Mietschuldenfreiheitsbescheinigung“, erklärt Sanogo. TIN-Personen (trans*, inter* und nicht-binäre Personen) werden dabei bevorzugt versorgt. Für sie sind die bestehenden Notunterkünfte mit ihren Mehrbettzimmern schlicht unzumutbar, weil sie hier nicht vor Anfeindungen geschützt werden können.

Generell, ist der Wohnungsmarkt kein diskriminierungsfreier Ort. Mehrfachdiskriminierung macht es für queere Personen oft besonders schwer, eine Wohnung zu finden.

Generell, so heißt es bei der Schwulenberatung, ist der Wohnungsmarkt kein diskriminierungsfreier Ort. Mehrfachdiskriminierung macht es für queere Personen oft besonders schwer, eine Wohnung zu finden, etwa für Personen mit Fluchterfahrung. Daher gelingt es vielen auch nach der Anerkennung nicht, die Sammelunterkünfte zu verlassen. Die Studie der Senatsverwaltung bestätigt, dass eine Korrelation zwischen Diskriminierungserfahrungen und prekären Lebenslagen von LGBTIQ*-Personen, sowie den daraus resultierenden Risiken einer Wohnungs- oder Obdachlosigkeit besteht.

Mangelwahre Mietraum

Doch wie kommt das Team der Schwulenberatung an die Wohnungen? Anjes Sanogo erklärt, dass die Akquise einen nicht unwesentlichen Teil der Arbeit einnimmt: „In unserem Team ist zum Glück einer aus der Immobilienwirtschaft, der viele Kontakte mitgebracht hat.“ Die meisten Wohnungen wurden bislang von den umstrittenen Immobilienunternehmen Deutsche Wohnen und Vonovia offeriert. Aber auch um die kleinen privaten Vermieter*innen wird intensiv geworben. Gebraucht werden vor allem Single-Wohnungen.

Sanogo berichtet, dass sich öfter Leute melden, die in ein paar Monaten aus ihrer Wohnung müssen und dringend etwas Neues brauchen. Doch das Angebot richtet sich nur an Notfälle: Menschen, die schon jahrelang ohne Mietvertrag leben und von den Angeboten des Regelsystems nicht erreicht werden. Wer sich in den Vermittlungspool aufnehmen lassen will, muss grundsätzlich dazu bereit sein, nach dem Einzug ein Unterstützungs- und Beratungsangebot wahrzunehmen. Einige haben Suchterkrankungen, andere psychische Erkrankungen wie ADHS oder Autismus – die Bandbreite ist groß. Ein gemeinsam erarbeiteter Hilfeplan soll den Betroffenen sinnbildlich gesprochen ein Geländer geben, an dem sie sich entlanghangeln können.

„Wir verstehen uns als Schnittstelle zwischen der sozialen Wohnhilfe und der queeren Szene.“

Alle Berliner Housing First-Projekte werden über die Senatsverwaltung für Arbeit, Soziales, Gleichstellung, Integration, Vielfalt und Antidiskriminierung gefördert. Sie sind ein Baustein im Berliner „Masterplan zur Überwindung von Obdachlosigkeit bis zum Jahr 2030.“ Viele werden über Queerhome* vermittelt. Die im November 2022 gestartete Beratungsstelle ist für alle Fragen rund ums Wohnen zuständig und arbeitet eng mit Housing First Queer zusammen. „Wir verstehen uns als Schnittstelle zwischen der sozialen Wohnhilfe und der queeren Szene“, erklärt Kathrin* Schulz vom dreiköpfigen Team. Schwerpunkt sind Wohnungsnotfälle, aber auch bei Fragen zum Wohnungserhalt, zu alternativen Wohnformen oder Diskriminierungen im Wohnbereich ist das Team ansprechbar. Außerdem bietet das Projekt, das in Trägerschaft des Sonntags-Club e.V. ist, Fortbildungen und Sensibilisierungsworkshops für Verwaltungsmitarbeiter*innen an.

Bild: Barbara Dietl
Kathrin* Schultz von Queerhome*.

Zwei Wohnungsnotfälle pro Woche

„Im Schnitt haben wir pro Woche zwei Wohnungsnotfälle, die nicht wissen wohin, beispielsweise weil sie von der Freundin aus der Wohnung geschmissen wurden“, berichtet Kathrin* Schultz. Zwar sind die Bezirke verpflichtet, solche Notfälle zu versorgen – das ist im Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetz geregelt – doch dieses Gesetz werde in Berlin täglich gebrochen. Oft müssten die Betroffenen stundenlang beim Amt warten, wenn denn überhaupt geöffnet ist, und dann wird ihnen gesagt, dass sie nichts für sie hätten. „Wenn jemand von uns dabei ist, hilft das schon sehr“, so Schultz. Die Beratungsstelle ist die erste ihrer Art in Deutschland. Künftig wollen sie mehr auf den Peer-to-Peer-Ansatz setzen, sodass ehemals Obdachlose den Ratsuchenden helfen können – Unterstützung auf Augenhöhe.

Ob die beiden Projekte von den drastischen Kürzungen im Sozialbereich betroffen sind, ist derzeit noch unklar. „Wir sind für 2025 gesichert, aber die angekündigten Sparmaßnahmen sind auch in unserem Projekt sehr stark spürbar“, sagt Schultz. Der Senat plant, die soziale Wohnhilfe um 150 Millionen Euro zu kürzen – was zwangsläufig noch mehr Menschen in die Wohnungsnot treiben wird. Dass ausgerechnet in diesem Bereich gespart werden soll, sei empörend. Nach wie vor fehlt es an queer-sensiblen Notunterkünften, die Angebote müssten dringend ausgebaut werden. 600 bis 700 Erstanfragen hat Queerhome* pro Jahr – zusätzlich zu den laufenden. Kathrin* Schultz hofft auf die Wut und die Solidarität der LGBTIQ*-Community.

Housing First Queer
Das Projekt ist immer auf der Suche nach Wohnraum und dankbar für jede Hilfe.
Tel.: 030 / 44 66 88 310
housing.first@schwulenberatungberlin.de
schwulenberatungberlin.de/housing-first-queer

Queerhome*
Das Projekt sucht nach Ehrenamtlichen, die Wohnungssuchende unterstützen können.
Tel.: 030 / 65867861
queerhome@sonntags-club.de
queerhome.de

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