Marsha P. Johnson – Mutter der LGBTI*-Bewegung
Zum 75. Geburtstag von Marsha P. Johnson – LGBTI*-Ikone und Mitbegründerin der zweiten queeren Emanzipationsbewegung – blickt SIEGESSÄULE-Autorin Michaela Dudley auf ihr Leben und ihre Leistungen zurück.
Die Revolution frisst ihre eigenen Mütter. Davon könnte Marsha P. Johnson ein Lied singen. Marshas Leben war ein Martyrium, welches vor Augen führt, dass die erste Hälfte des Wortes „Leidenschaft“ buchstäblich aus „Leiden“ besteht. Um den Duft der paar Rosen zu riechen, die ihr zugeworfen wurden, musste sie einen Dornenweg zurücklegen. Irgendwo zwischen Sexarbeit und Seligsprechung blieb sie auf der Strecke. Dabei kämpfte sie nicht nur für die Belange der queeren Community, sondern sie führte einen Mehrfrontenkrieg gegen Diskriminierung und für soziale Gerechtigkeit. In ihren Highheels ging sie auf die Barrikaden, während der Begriff Intersektionalität noch nicht einmal in den Kinderschuhen steckte. Doch diese Vorkämpferin verkümmerte zu einer erduldeten Fußsoldatin und dann zu einer überflogenen Fußnote der Geschichte. Aber wer war diese Person, die in diesem Jahre 75 geworden wäre?
Marsha war die Queen von Elizabeth. Gemeint ist Elizabeth, New Jersey. Am 24. August 1945 wurde sie ebenda geboren, und zwar als Malcolm Michaels, Jr., ein afroamerikanischer Knabe mit sechs Geschwistern. In der kleinen Industriestadt westlich von New York City – und gleichsam im Schatten der Freiheitsstatue – wurde der American Dream in der Montagehalle hergestellt. Doch Malcolm erlebte eher den Alptraum. Mit fünf Jahren musste er Prügel einstecken, weil er sich unbelehrbar erdreistete, Mädchenkleidung zu tragen, und als Teenager wurde er vergewaltigt. Seine christlich-methodistische Mutter Alberta war der Meinung, Gays seien weniger wert als Hunde.
A Walk on the Wild Side
1963 wagte er den großen Sprung über den Hudson River. Mit 17 Jahren, 15 Dollar, einem High-School-Diplom und einer Tasche voller Klamotten. Manhattan. A Walk on the Wild Side. Wie im Lied von Lou Reed. Die Beine wurden epiliert, und aus Malcolm wurde Marsha. Den Nachnamen Johnson nahm sie deshalb an, weil sie das 24-Stunden-Restaurant Howard Johnson's in der 42. Straße frequentierte, gleich um die Ecke vom Times Square und den berüchtigten Absteige Hotel Dixie. Und der Buchstabe „P“ stand übrigens laut ihrer Aussage für „Pay it no mind!“ Man solle sich keine Sorgen machen, ganz egal, ob es sich um ihre geschlechtliche Zuordnung – sie nannte sich „Drag Queen“ – oder ihre gefährdete Zukunft handelte. Optimismus statt Ohnmacht.
Dabei war der New Yorker Strich schon immer ein hartes Pflaster, das mit klaftertiefen Schlaglöchern übersät war. Sex und die Sitte, das war das Katz-und-Maus-Spiel, bei dem Marsha immer wieder hinter Gittern landete. Gründe gab es genug: Prostitution, Herumlungern, Verstöße gegen das Bekleidungsgesetz, Erregung öffentlichen Ärgernisses, Drogendelikte. Oft reichte der Auffangtatbestand, eine Schwarze Person zu sein. Überdies wurde sie etliche Male in die Psychiatrie eingeliefert, wo sie teils monatelang mit Chlorpromazine vollgepumpt wurde. Doch man konnte ihren Willen nicht brechen. Auch wenn es nach jeder Entlassung immer ein bisschen länger dauerte, wieder Fuß zu fassen, stolzierte sie dann erhobenen Hauptes durch die Straßenschluchten. Für gewöhnlich war sie extravagant angezogen, vom Pillenhut und der Perücke bis zu den Pumps hinunter. Second-hand, aber first class. Im Purgatorium war sie der Paradiesvogel, und unter ihre Fittiche nahm sie obdachlose trans* Jugendliche wie die Latina Silvia Rivera, mit der sie später die Aktivist*innenorganisation „Street Transvestite Action Revolutionaries“ – kurz „STAR“ – gründete. In der Christopher Street von Greenwich Village galt Marsha ohnehin als Star, da sie beim Stonewall-Aufstand am 28. August 1969 gleichsam den ersten Stein geworfen hatte. Doch nach diesem wegweisenden Stein des Anstoßes für die moderne Gay-Rights-Bewegung wurde Marsha mittlerweile weiß dominierten Community marginalisiert. Schwarze trans Frauen, die auch noch dazu Anschaffen gingen, passten nicht ins Bild. Rassismus unter dem Regenbogen. Auch lesbische und feministische Gruppen zeigten sich kaum solidarisch mit ihr. TERFS auf dem Turf. Selbst Schwarze Bürgerrechtsgruppen, ob wertkonservativ oder radikal geprägt, konnten mit ihr nichts anfangen, und verkannten somit die Rosa Parks in ihr. Andy Warhol verlängerte ihren Ruhm mit Gigs bei den Hot Peaches und einer ihr gewidmeten Poloraid-Reihe, aber das Blitzlichtgewitter war bald vorbei.
Man konnte ihren Willen nicht brechen
Als ich Marsha in den 1980er Jahren kurz sah, war sie mit ACT UP unterwegs. Ihre Leichtigkeit fehlte. New York steckte zwischen Gentrifizierungs- und Infizierungswellen. Marsha war wieder obdachlos und nun auch HIV-positiv. Trotzdem kümmerte sie sich wie eine Mutter Theresa um ihre Brüder und Schwestern, bis sie am 5. Juli 1992 zu Tode kam. Als man sie aus dem Hudson River herausfischte, hieß es zunächst „Suizid“. Inzwischen gilt die Todesursache als ungeklärt. Als Regisseur Roland Emmerich, für seine Katastrophen-Blockbuster bekannt, 2015 den Spielfilm „Stonewall“ auf die Leinwand brachte, war die Empörung groß. Denn Emmerich schuf auch diesmal ein Desaster. Der Streifen glich einer weißgewaschenen Weichspülung, und die Ikone Marsha trat eher als Ulknudel in Erscheinung. So wundert es nicht, dass viele jüngere Personen, die mit Stolz die kunterbunte Regenbogenflagge schwenken, relativ wenig über die erste Fahnenträgerin der Bewegung wissen. Am 24. August wäre Marsha P. Johnson 75 Jahre alt geworden. Pay her some mind. Schenkt ihr die Aufmerksamkeit, die sie verdient hat.
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