Lücken in der HIV-Aufarbeitung: Welche Geschichten (nicht) gehört werden
Vorstandsmitglied des Schwulen Museums Heiner Schulze zeigt Redakteur*in Lara Hansen das Innere des größten Archivs für LGBTIQ*-Geschichte in Deutschland, kritisiert den nostalgischen Blick zurück und stellt Lücken in der HIV-Aufarbeitung fest
Es ist das Herzstück des Schwulen Museums: Traut man sich den klapprigen Fahrstuhl in die unterste Etage zu nehmen, findet man sich in einem urigen Keller inmitten von über 1,5 Millionen Archivalien wieder. Das Archiv, das mittlerweile aus allen Nähten platzt, entstand 1984 parallel zum Aufbau des Museums inmitten der Aids-Krise und einer damit zusammenhängend zunehmend homofeindlichen Medienlandschaft. Dieser Kontext prägt das Sammelbecken des aktivistisch motivierten Museums bis heute: Immer wieder gibt es Ausstellungen und Programm zu HIV und Aids. Doch aufgearbeitet sind schätzungsweise nur 10 Prozent aller Archivmaterialien. Unter Flyern, Flugblättern, Kleidern, Kunst, Sextoys und Pornos verbergen sich vermutlich Geschichten, die noch nicht gehört wurden, Narrative, denen in den weiß und männlich geprägten HIV-Erzählungen noch keine Aufmerksamkeit geschenkt wurde.
„Das Museum hat große Lücken. Die etablierten Erzählungen zu Aids und HIV sind weiß und cis-männlich.“
„Das Museum hat große Lücken“, erklärt Heiner Schulze, Vorstandsmitglied des Schwulen Museums, gegenüber SIEGESSÄULE. „Die etablierten Erzählungen zu Aids und HIV sind weiß und cis-männlich.“ Insbesondere Erfahrungen von mehrfach marginalisierten Menschen fänden sich selten im Archiv. „Wer den ganzen Tag mit Rassismus, Klassismus, Sexismus zu kämpfen hat, kann eben nicht so viele Texte schreiben wie ein weißer cis Mann, der zwar auch schwulenfeindliche Diskrimination erfährt, aber sich leichter Gehör verschaffen kann“, so Schulze
Unsichtbarkeit von lesbischen und BiPoC-Erfahrungen
Diesen Lücken auf die Spur gegangen ist Schulze zusammen mit anderen Forscher*innen im Rahmen des Forschungsprojekts arcHIV, das von August 2020 bis Februar 2022 im Schwulen Museum ausgestellt war. „Wir fragten uns: Wer ist noch nicht zu Wort gekommen?“ Nach kurzer Suche stießen sie damals unter über 100 Umschlägen auf einen vielversprechenden Ordner namens „Lesben und Aids“. Die Erwartung war groß: Schließlich ist es ein offenes, aber vor allem in Deutschland bis heute wenig dokumentiertes Geheimnis, dass Lesben damals zu den wichtigsten Pflegerinnen für infizierte queere Menschen zählten und häufig eingesprungen sind, wenn alle anderen sich gescheut haben. Als Zeichen der Dankbarkeit wurde Anfang der 90er-Jahre in den USA das L an den Anfang von „LGBT“ gestellt. Mit Trommelwirbel öffneten sie also den Umschlag, nur um festzustellen: Er war wüstenleer. Das altbekannte Phänomen der lesbischen Unsichtbarkeit sollte sich auf den ersten Blick auch hier bewahrheiten, was zugegebenermaßen im Schwulen Museum wenig überraschend ist. Aber statt aufzugeben, wühlten die Kurator*innen weiter in derselben Sammlung und stießen tatsächlich auf wenige verstreute Fundstücke. Darunter etwa ein Flyer für eine Filmvorführung eines Safer-Sex-Films für Lesben in Wien. Das Video namens „Du Darfst – Ein Film über Lesben, HIV und Moral“, das 1991 von S.A.F.E. (Sapphos Allerotische Film Edition) in Berlin produziert wurde, konnten sie weder im eigenen Archiv noch anderswo finden, aber Auszüge davon bekamen sie von SIEGESSÄULE-Verlegerin Manuela Kay, die zum Filmteam gehörte, zur Verfügung gestellt und zeigten diese im Rahmen der arcHIV-Ausstellung. Heute ist der Ordner immer noch traurig leer. Einzig und allein ein Safer-Sex-Flyer für „Frauen, die Sex mit Frauen haben“ findet sich neben dem Filmflyer. „Es war unheimlich schwer, mehr zu Lesben und Aids oder sogar Frauen und Aids und zu den Erfahrungen von PoC zu finden. Wir wissen, dass da mehr ist, und das spiegelt sich bei uns im Archiv kaum wieder“, erklärt Schulze.
Die mangelnde Archivierung von BIPoC-Erfahrungen ist ein systematischer blinder Fleck der Geschichte
Die mangelnde Archivierung von BIPoC-Erfahrungen ist ein systematischer blinder Fleck der Geschichte vor dem immer noch aktuellen Hintergrund, dass die Mehrheit der Menschen, die an Aids gestorben sind und bis heute an dem Virus sterben, nicht weiß ist. In der weißen Perspektive auf Aids findet laut Schulze außerdem eine Historisierung statt, die weiter ausschließt und unsichtbar macht. „Es gibt fast schon einen nostalgischen Blick zurück“, sagt er. Dabei schwinge die falsche Annahme mit, dass Aids passé sei, ein Kampf, der nicht mehr geführt werden müsse. Diese Romantisierung der Vergangenheit untergräbt die in der Gegenwart immer noch existierenden Gefahren.
„Aids ist nicht vorbei“
Vor allem junge Künstler*innen widersetzen sich den immer wieder ins Gedächtnis gerückten Bildern, so etwa die New Yorker Vincent Chevalier und Ian Bradley-Perrin mit ihrem Poster „Your Nostalgia is Killing Me“ (2013). Die Collage, die auch im arcHIV thematisiert wurde, zeigt den Titel in leuchtend gelben Versalien vor dem Hintergrund eines computergenerierten Schlafzimmers. Die Wände sind unter anderem mit 80er-Jahre-Grafiken à la General Idea und Keith Haring tapeziert. Als das Kunstwerk in New York kontroverse Wellen machte, war Schulze zufällig gerade vor Ort und führte Interviews mit Aids-Aktivist*innen aus verschiedenen Generationen, um Eindrücke zu sammeln. Während einige ältere Aktivist*innen Respektlosigkeit anprangerten, freuten sich wiederum andere über frischen Enthusiasmus in der jüngeren Generation. „Aids ist nicht vorbei. Das muss immer wieder betont werden“, sagt der Sozialwissenschaftler dazu.
Was es heute bedeutet, mit einer positiven Diagnose zu leben, wird in dem nostalgisierenden Diskurs wenig beleuchtet. Die Aufarbeitung der Lücken wird dadurch erschwert. Ein weiterer Versuch, inklusiver zu kuratieren ist die Berliner Aids Oral History Sammlung des Museums, die 2020 in Kooperation mit der Humboldt-Universität entstand und unter anderem Interviewausschnitte zum Thema Diversität zeigt. Möglich war das durch eine Förderung für zeitgeschichtliche und erinnerungskulturelle Projekte des Kultursenats von Berlin. Von diesen Förderungen ist das Schwule Museum in der Archivarbeit abhängig. Umso größer ist die Sorge nach den angekündigten Kürzungen im Kulturetat. „Archive zu diversifizieren ist ein langer Prozess. Selbst wenn man guten Willens ist“, so Schulze. Es fehlten Ressourcen für eine holistische Erschließung des Archivs. Zu der Entscheidung des Kultursenats kommt ein weltweit und in Deutschland voranschreitender Rechtsruck, der queeren Recherchevorhaben mehr Steine in den Weg legen dürfte.
„Der Diskurs wird rauer und der Kampf um Ressourcen wird schwerer. Der Senat will kürzen, und dann gibt‘s noch eine CDU, die sich Trump Rhetorik aneignet. Was wird das für uns bedeuten?“
„Der Diskurs wird rauer und der Kampf um Ressourcen wird schwerer. Der Senat will kürzen, und dann gibt‘s noch eine CDU, die sich Trump Rhetorik aneignet. Was wird das für uns bedeuten?“, sagt Schulze. Klar ist: Das Archiv besteht, auch wenn hochwertige Archivboxen fehlen und das politische Klima alles andere als förderlich ist. Woche für Woche finden mehr Erinnerungsobjekte ihren Platz im Archiv, von dem nur 10 Prozent erschlossen sind. Unter dem archivierten Chaos verbergen sich sicherlich viele Geschichten, die noch nicht gehört wurden. Und auch wenn der Weg steinig ist, mit den richtigen Mitteln werden auch sie erzählt.
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