Linke-Chefin Susanne Hennig-Wellsow: „Solidarität ist der neue Egoismus“
Die Linke hofft trotz schlechter Umfragewerte auf eine Regierungsbeteiligung. Im Rahmen unserer Berichterstattung zur Bundestagswahl am 26. September haben wir mit der Parteivorsitzenden Susanne Hennig-Wellsow gesprochen, was ein Bündnis mit der Linken für das TSG, Enteignungen von Immobilienkonzernen und queere Räume bedeuten könnte
Frau Hennig-Wellsow, Sie sind Bundesparteivorsitzende der Linken. Warum haben Sie eigentlich auf die Spitzenkandidatur verzichtet? Das hat viele gute Gründe. Für uns als Linke ist es für die Bundestagswahl gut, möglichst viele Direktmandate zu haben. Ich kämpfe um eins in Erfurt. Ich bin der Überzeugung, dass die Linke bereit sein muss fürs Regieren. Und ich glaube, dass die Grünen sich gar nicht erlauben könnten, uns nicht zu Sondierungsgesprächen einzuladen, wenn es zahlenmäßig passt. Ich bin mit weiteren Genoss*innen dafür zuständig, das vorzubereiten. Das sind die Aufgaben, die ich erfüllen möchte, und Dietmar und Janine machen die Spitzenkandidatur. Außerdem habe ich einen sieben Jahre alten Sohn und wüsste überhaupt nicht, wie ich ihm dann noch gerecht werden sollte.
„Dieses Bündnis wäre in der Lage, an das große Thema Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums zu gehen."
Was meinen Sie damit, wenn Sie sagen, die Grünen könnten sich nicht erlauben, die Linke nicht zu Sondierungsgesprächen einzuladen? Es gibt die Wahl zwischen mehreren Optionen. Schwarz-Grün würde bedeuten: Es geht weiter so, nur ein bisschen grüner. Eine Ampel wäre faktisch eine Absage an den Kampf gegen den Klimawandel, weil die FDP aufgrund ihrer liberalen Einstellung nicht bereit wäre, da heftig zu investieren. Oder es kann Grün-Rot-Rot geben, und das würde bedeuten, dass wir in dieser Republik zum ersten Mal ein progressives Bündnis auf den Weg bekämen, das eine ökonomische Politik mit sozialen Reformen verbinden könnte. Dazu braucht es Geld. Ich meine damit, dass dieses Bündnis auch in der Lage wäre, an das große Thema Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums zu gehen. Dafür muss man bereit sein, sich auch mal mit den großen Verputzern anzulegen.
Hier in Deutschland ist die soziale Ungerechtigkeit durch Corona noch sichtbarer geworden. Welche Konsequenzen ziehen Sie aus der Pandemie? Millionen Menschen werden von der aktuellen Politik einfach vergessen und nicht gesehen. Menschen, die in beengten Wohnungen leben, die ihre Mieten und ihren Strom kaum noch leisten können. Mich hat schockiert zu sehen, dass Menschen in ärmeren Regionen ein 50 bis 70 Prozent höheres Sterberisiko haben. Es ist erschreckend, wie groß die soziale Komponente an diesem Virus ist.
Wie sähe ein alternativer Umgang mit der Pandemie aus? Während der Krise hat die Bundesrepublik Milliarden in Unternehmen gestopft. Dann muss auch für alle anderen Dinge Geld da sein. In Deutschland ist die Zahl an Millionär*innen und Milliardär*innen gewachsen. Das zeigt, dass das Geld da ist. Also braucht es den politischen Mut, das Geld zurückzuholen und zu verteilen. Wenn man nicht weiter eine soziale Spaltung will, braucht es eine solidarische Politik, die zulässt, dass die, die viel haben auch viel geben – an die, die wenig haben und deshalb mehr brauchen. Das ist machbar.
Und wie? Mit der Vermögenssteuer und der Vermögensabgabe. Bei der Abgabe geht es darum, von Vermögen einen festen Betrag einzufordern, den man über viele Jahre abzahlen kann. Unsere Idee dieser Abgabe betrifft nur 0,7 Prozent der Bevölkerung. Auch zur Umverteilung gehören die Erbschaftssteuer, Transaktionssteuer und so weiter. Das ist alles kein Teufelswerk. Damit könnten wir insgesamt im Jahr etwa hundert Milliarden Euro mehr einnehmen und so ließe sich die soziale Sicherung hinkriegen.
Besonders queere Orte und Clubs sind nach Corona ruiniert oder fürchten den Ruin. Wie wird es für Betroffene weitergehen? Für Berlin ist das ein massives Problem, weil durch die Schließung von Clubs und Bars viele Freiräume wegfallen. Der Bund muss die Bundesländer dabei unterstützen, ihren Kultureinrichtungen einen Neustart zu ermöglichen. Es gehört zu einem freien, selbstbestimmten Leben, dass Clubs und Kultureinrichtungen wieder zugänglich sind. Ich verstehe Clubs definitiv als Kultureinrichtungen und deshalb müssen sie auch eine entsprechende Förderung kriegen. In Berlin ist das ja bereits der Fall. Ob man sie jetzt Teil des Kultur- oder Wirtschaftszweigs nennt, ist dabei eigentlich egal.
„Das Transsexuellengesetz verbietet sich einfach.“
Im linken Themenpapier ist „die Wahrung der Grundrechte von Transsexuellen, Intersexuellen und Transgender” verankert. Wie sieht das konkret aus? Es geht darum, dass Menschen so leben können und sollen, wie sie es wollen. Selbstbestimmt. Das Transsexuellengesetz verbietet sich einfach, es schafft in dieser Gesellschaft Diskriminierung und Ausgrenzung. Es ist damit eines der wichtigsten Themen, wenn es darum geht, Menschen ihre Würde zu geben und unsere Verfassung zu erfüllen. Es sieht oft so aus, als seien Außen- und Sicherheitspolitik, der Klimawandel und soziale Fragen die großen politischen Themen. Sie sind auch wichtig. Aber gerade das Wohlfühlen von Menschen, das Geborgensein und sozialer Halt sind etwas, das die Politik geben muss.
Eine weitere Forderung aus der LGBTIQ*-Community ist die Ergänzung des Artikels 3 Absatz 3, dass niemand aufgrund der sexuellen Identität diskriminiert werden darf. Ja, das kann man machen. Ich finde, dass kein Mensch aufgrund von irgendetwas diskriminiert gehört. Man kann das immer weiter ergänzen, aber mit jeder Ergänzung schafft man auch eine Eingrenzung. Eigentlich sollte aber klar sein: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Und das gilt immer.
Neben Corona war Rassismus und Polizeigewalt ein großes Thema im vergangenen Jahr. Wie soll dieses Thema nachhaltig und langfristig behandelt werden? NSU, der tiefe Staat in Sachsen, der Verfassungsschutzpräsident Maaßen – es ist ein Riesenthema. Die Sicherheitsbehörden haben faktisch ein Problem mit Rechtsradikalismus. Wir brauchen mehr Daten, es muss eine Studie dazu auf den Weg gebracht und Rassismus und rechtsradikale Einstellungen müssen in der Polizei geahndet werden. Racial Profiling geht zum Beispiel überhaupt nicht, das muss in den Polizeigesetzen festgelegt sein. Es braucht eine andere Form von Ausbildung. Wir nennen das in unserem Wahlprogramm „Demokratisierung der Polizei“.
„Wir müssen anerkennen, dass es Racial Profiling und Diskriminierung gibt."
Jetzt zeigen wissenschaftliche Studien, dass Reformierung und Sensibilisierung der Polizei keinen großen Effekt auf die Häufigkeit von Polizeigewalt haben. Sollte es nicht eher darum gehen, Alternativen zu schaffen? Ich selbst bin mit Polizisten aufgewachsen, mein Vater war Kriminalist. Auch aus diesem Grund weiß ich, dass es in der Polizei solche und solche gibt. Auch viele, die Polizeigewalt im eigenen Umfeld nicht akzeptieren. Ich weiß um die guten Polizist*innen und um die nicht guten. Wir müssen anerkennen, dass es Racial Profiling und Diskriminierung gibt. Wenn eine Gesellschaft das jahrelang geduldet hat, zeigt sich das in den Behörden. Man sieht das mit den rechten Strukturen in den Behörden Sachsens oder dem Aufbau des NSU in Thüringen. Behörden sind keine toten Körper, die sind menschengemacht.
Zurück zu Corona: Patente aussetzen – ja oder nein? Ja. Dazu gibt es einen einfachen Satz: Solidarität ist der neue Egoismus. Nur wenn wir diese Pandemie solidarisch weltweit bekämpfen, wird jede*r Einzelne von uns die Chance haben, gesund zu bleiben.
Der Berliner Mietendeckel ist vor dem Bundesverfassungsgericht gescheitert. Gibt es eine Aussicht auf Bundesebene, dass Immobilienkonzerne enteignet werden? Die Berliner haben es richtig gemacht, den Mietendeckel einzuführen. Mietendeckel werden für uns als Partei auf jeden Fall auch bundesweit ein Thema. Es gibt im ganzen Land einen massiven Anwuchs an Mietpreisen. Das lässt sich mit einem Paragrafen im Bundesgesetzbuch regeln, der sagt, dass die Länder eine soziale Mietpreisbindung auf den Weg bringen sollen. Das ist relativ einfach. Dazu braucht es eine einfache Mehrheit, ein progressives Bündnis könnte das also auf den Weg bringen.
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