Räumung der „Liebig34“
Das „anarcha-queerfeministische“ Hausprojekt in der Friedrichshainer Liebigstraße wurde am 9. Oktober geräumt.
Lautstark, mit Sprechchören, Trommeln auf Mülltonnen und Töpfen, wurde heute morgen gegen die Räumung der Liebig34 demonstriert. Bereits ab 2 Uhr morgens hatten sich Nachbar*innen und Demonstrant*innen im Umfeld des Hausprojektes und die Sperrzone der Polizei versammelt. Gegen 5 Uhr morgens waren Hunderte Demonstrant*innen anwesend.
Die Räumung begann ab 7 Uhr früh. Die Bewohner*innen der Liebig34 hatten sich im Gebäude verbarrikadiert. „Wir werden dieses Haus nicht freiwillig hergeben, sondern jeden Teil unserer in Beton manifestierten Utopie verteidigen“, hatten sie im Vorfeld auf ihrem Blog angekündigt.
Die Polizei setzte Sägen ein und verschaffte sich u. a. über ein Fenster im ersten Stock Zutritt zum Haus. Die ersten Bewohner*innen wurden gegen 8 Uhr, die letzten erst kurz vor 11 Uhr aus dem Gebäude gebracht. Laut einem Polizeisprecher waren rund 1500 Beamte im Einsatz. Diese waren, mitten in der Corona-Pandemie, auch aus anderen Bundesländern angereist.
Demo am Freitagabend
Gegen die erfolgte Räumung soll laut Blog der Liebig34 eine weitere Demo am Freitag, den 09. 10., ab 21:00 Uhr, mit Start am Monbijoupark in Mitte, stattfinden.
Liebig34: „Sind wütend und traurig“
„Wir sind sehr wütend und traurig. Aber es macht mich und andere auch glücklich, diese ganze Solidarität zu sehen,“ sagte Mascha vom Kollektiv der Bewohner*innen im Gespräch mit SIEGESSÄULE am Vortag der Räumung. „Es war uns immer wichtig zu sagen, Liebig34 ist nicht nur für die Menschen wichtig, die darin wohnen oder gewohnt haben, sondern es ist auch ein symbolischer Ort für die queer-feministische Szene in Berlin und international.“
Das Kollektiv der Bewohner*innen wolle auf jeden Fall in einer Form weiterbestehen und gemeinsam aktiv bleiben. „Wenn uns das Haus weggenommen wird, wird die Liebig34 trotzdem weiterleben“.
Kammergericht lehnte Aussetzung ab
Bereits am Dienstag hatte das Kammergericht einen Antrag des Anwalts der Bewohner*innen zurückgewiesen, der eine Aussetzung der Vollstreckung des Räumungsurteils gefordert hatte. Laut Kammergericht haben die Interessen des Eigentümers Vorrang vor denen der Bewohner*innen. Besondere Umstände für eine Ausnahme seien nach Prüfung des Falls nicht gegeben.
Jahrelanger Rechtsstreit mit dem Eigentümer
Das Projekt ging 1990 aus einer Besetzung des Gebäudes hervor. Nach dem gescheiterten Versuch, das Haus kollektiv zu kaufen, wurde 2008 ein Gewerbepachtvertrag über 10 Jahre geschlossen, der Ende 2018 auslief. Anfang Juni 2020 gab nun das Berliner Landgericht einer Räumungsklage des Eigentümers statt. Laut Darstellung der Bewohner*innen richte sich der Räumungstitel gegen den Verein Raduga e. V. Dieser hatte in 2008 mit dem Eigentümer Gijora Padovicz den Pachtvertrag vereinbart. Mittlerweile sei Raduga e. V. jedoch gar nicht mehr in den Räumlichkeiten, sondern ein anderer Verein, Mittendrin e. V. Die Räumung sei aus Sicht der Bewohner*innen deshalb rechtswidrig (siehe Interview mit SIEGESSÄULE vom 15. Juli).
In verschiedenen Internetforen waren im Vorfeld heftige Proteste gegen die Räumung angekündigt. Bekannt wurden bereits in der vergangenen Woche Zerstörungen an Kabeln der S-Bahn, an einer Polizeiwache in Lichtenberg und dem Kreuzberger Amtsgericht, die in einen Zusammenhang mit der Liebig34-Räumung gebracht wurden. Neben Solidaritätsbekundungen für das Hausprojekt führten diese Aktionen ebenso zu Kritik.
Steigende Corona-Zahlen: Kritik am Zeitpunkt der Räumung
Angesichts der rapide ansteigenden Corona-Infektionszahlen in der Hauptstadt gab es im Vorfeld deutliche Kritik am Zeitpunkt der Räumung, gerichtet an die Polizei und den Innensenator Andreas Geisel (SPD). Linke und Grüne in Berlin plädierten für eine Verschiebung der Räumungsaktion. Bereits am Mittwoch forderte die Berliner Linke auf Twitter: „Die Einhaltung von grundlegenden Hygieneregeln wird wohl kaum zu gewährleisten sein. Wir erwarten daher von Polizei und Innensenator angesichts der derzeitigen Pandemiesituation die Räumung auszusetzen.“ Am Donnerstag legten die Grünen Friedrichshain-Kreuzberg mit einer Pressemitteilung nach: „Gerade jetzt ein solch massives Polizeiaufgebot aus dem gesamten Bundesgebiet in ein Risikogebiet zusammenzurufen, ist nicht nur unverhältnismäßig, sondern unvernünftig.“
„Gerade jetzt ein solch massives Polizeiaufgebot in ein Risikogebiet zusammenzurufen, ist nicht nur unverhältnismäßig, sondern unvernünftig.“
Nicht nur aufgrund der kaum einhaltbaren Hygieneregeln im Rahmen der Räumung unterstützte die BVV-Fraktion der Grünen einen Vorschlag zum Aufschub der Räumung bis Frühjahr 2021, „um einerseits die aufgeworfenen rechtlichen Fragen zu klären und ergänzend nochmal den Versuch zu unternehmen, mit dem Eigentümer eine tragbare Lösung zu finden.“
Offener Brief von Nachbar*innen
Einige Nachbar*innen der Liebig, darunter u. a. eine Bäckerei, eine Pizzeria, ein Tattoostudio oder das Jugend(widerstands)museum formulierten einen gemeinsamen offenen Brief, der SIEGESSÄULE vorliegt. „Die Liebig34 ist ein Ort von Selbstbestimmung und Akzeptanz unterschiedlichster Lebensentwürfe,“ heißt es darin. „Damit hat sie eine tragende und unverzichtbare Rolle in der Ausrichtung der Stadt als gern betitelte Regenbogenhauptstadt.“ Beispiele aus der Vergangenheit hätten gezeigt, dass seitens der Stadt Berlin durchaus Handlungsmöglichkeiten zum „Erhalt alternativer und unkommerzieller Freiräume“ bestünden. So seien bereits Häuser durch die öffentliche Hand oder mit politischer Unterstützung von Stiftungen und Genossenschaften erworben und an Projekte zu günstigen Bedingungen vermietet worden.
Unterstützung äußerten am 29. September auch die Grüne Jugend Berlin und die Linksjugend Solid Berlin in einem offenen Brief an den Berliner Innensenator Andreas Geisel (SPD). „Tun Sie alles, was in ihren Kompetenzen liegt, um die Räumung am zu verhindern!“, heißt es darin. Räume wie die Liebig34 seien „essentiell für unsere Stadt.“
Initiative „Kein Haus weniger“
Alternative, nicht kommerzielle Kultur-, Wohn- und Hausprojekte haben den Charakter Berlins geprägt, genießen aktuell aber wenig Schutz. Die Initiative „Kein Haus weniger“ formulierte bereits im November 2019 einen offenen Brief zum Erhalt der Liebig 34, des K-Fetisch, des Syndikats und anderer Projekte. Unterzeichnet hatten den Appell auch Orte wie about blank, das Frauenzentrum Schokofabrik e. V., das Ballhaus Naunynstraße, Mensch Meier und SO36, sowie Einzelpersonen wie die Autorin Elfriede Jelinek, der Autor Edouard Louis oder der Journalist Günter Wallraff. Das Syndikat wurde im August geräumt – nun auch die Liebig.
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