Kommentar

LGBTIQ* und Osteuropa – wider das Schwarz-Weiß-Denken

30. Okt. 2023 Daniel Heinz, pb
Bild: Marco Fieber CC BY-NC-ND 2.0 Deed Quelle
Demonstration gegen Queerfeindlichkeit in Russland, 2013

Osteuropa wird häufig mit Queerfeindlichkeit assoziiert. Obwohl gerade Russland immer wieder mit LGBTIQ*-feindlicher Unterdrückung für Schlagzeilen sorgt, ist es wichtig, die Geschichte der Region differenzierter zu betrachten – dieser Meinung ist PostOst-Aktivist Daniel Heinz

Ich, queer und russlanddeutsch, werde oft mit der Frage konfrontiert: „Was denken deine Eltern über deine Sexualität?“ Hinter dieser Frage verbirgt sich die Annahme, es gäbe keine Akzeptanz für queere Identitäten in Osteuropa.

Wie viele Jugendliche wuchs ich mit heteronormativen Erwartungen an mich auf. Meine Eltern heirateten bereits mit 18 Jahren. Jung zu heiraten und viele Kinder zu bekommen war für meine Familie in Kasachstan sehr üblich. Meine Mutter sprach schon früh von meiner potenziellen zukünftigen Ehefrau. Auch wenn ein Ehemann für mich dabei nie im Raum stand, wussten wir, dass Liebe auch anders aussehen kann: Fast jedes Wochenende verbrachten wir mit unserer Großfamilie, wo im Hintergrund oft MTV Russia lief. Ich habe schöne Erinnerungen daran, wie ich zum Musikvideo von t.A.T.u. „Я сошла с ума“ („All the things she said“) getanzt habe. Die als lesbisches Paar auftretende Band t.A.T.u war jahrelang eines der größten popkulturellen Exportgüter der russischen Föderation. Auch wenn heute bekannt ist, dass Jelena Katina und Julija Wolkowa keine lesbischen Frauen sind und beide leider russische Propaganda im Netz verbreiten, war dieses Lied in meiner Jugend eine meiner ersten Verbindungen von Queernes und Osteuropa.

Zwischen Traditionen und Travestie

Einige Jahre nach ihrer Einwanderung nach Deutschland gründeten meine Cousins eine Hochzeitsagentur, die bei russlanddeutschen Hochzeiten eine besondere Überraschung bot: Travestie-Shows. Diese Hochzeiten wurden von einem Moderator, „Tamada“ genannt, geleitet, der die Gäste zu verschiedenen Spielen anhielt. Obwohl es heterosexuelle Hochzeiten waren, spielten die Rituale und Traditionen oft mit Geschlechterrollen und Klischees. Travestie hat eine lange Tradition in der osteuropäischen Film- und Theaterindustrie. Sie ist vor allem durch Andriy Danylko, aka Verka Serduchka, bekannt. 2007 vertrat er die Ukraine beim Eurovision Song Contest.

Übrigens stammt auch der erste Eurovision-Beitrag mit einer Drag-Gruppe aus Osteuropa: 2002 trat das Trio Sestre, bestehend aus Dragqueens in Stewardess-Uniformen, mit dem Song „Samo ljubezen“ für Slowenien an. Ihre Teilnahme löste in Slowenien eine Debatte aus, die bis ins Parlament reichte. Trotz der Kontroverse wurde der Song landesweit zum Hit.

Zwischen Akzeptanz und Kriminalisierung

Homosexualität ist kein neues Thema in Osteuropa. Schon im 15. Jahrhundert schrieb Siegmund Freiherr von Herberstein, österreichischer Diplomat am Russischen Hof, über gleichgeschlechtliche Liebe. Er echauffierte sich darüber, dass gleichgeschlechtliche Liebe im russischen Zarenreich praktiziert wurde.

Erst 1716 verbot Zar Peter I. Homosexualität – doch erst nach weiteren 200 Jahren verankerte sich das Verbot flächendeckend in allen Gebieten des Reiches. Die erste Sozialministerin der Sowjetunion, Alexandra Kollontai, entkriminalisierte 1921 kurzzeitig Homosexualität, aber 1934 kriminalisierte Stalin sie erneut. Politischen Gegnern vorzuwerfen, homosexuell zu sein, konnte genutzt werden – zehntausende Männer landeten in Gulags, viele starben. Lesben litten ebenfalls unter Sowjetrepressionen. Sie wurden zwar nicht strafrechtlich verfolgt, wurden aber als „schizophren“ pathologisiert.

LGBTIQ* in der postsowjetischen Ära

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entkriminalisierten alle Nachfolgestaaten außer Usbekistan und Turkmenistan männliche Homosexualität. Die frühen 2000er brachten Hoffnung, doch schon 2002 debattierte Russland darüber, Homosexualität erneut strafbar zu machen. In der russischen Teilrepublik Tschetschenien, unter der islamistischen Führung des Präsidenten Asian Maschadow, wurde Homosexualität bereits 1996 wieder kriminalisiert.

„Propaganda-Paragraphen“ in den 2000ern schränkten positive Äußerungen über LGBTIQ* gegenüber Minderjährigen ein. 2017 wurden Misshandlungen und Morde an schwulen und bisexuellen Männern in Tschetschenien international bekannt. Im vergangenen Jahr verschärfte Russland das Propaganda-Gesetz und verbot Transgeschlechtlichkeit. Positive Äußerungen über LGBTIQ* sind in Russland nun gänzlich verboten. Doch Osteuropa ist nicht nur Russland.

Ukraine und Slowenien – Hotspots für osteuropäische Queers

Die Ukraine zeigt nach Euromaidan-Protesten wachsende Unterstützung für Queers. Russlands Krieg stellt Chancen und Herausforderungen dar. In einem viralen Beitrag der ukrainischen LGBTIQ*-Militärgruppe trauern Menschen um einen queeren Kameraden. Ukrainer*innen kämpfen Seite an Seite mit der LGBTIQ*-Community für Selbstbestimmung, Menschenrechte und gegen Homophobie.

Der Club K41 in Kyiv war Treffpunkt für queere Partygänger. Das Gebäude des Clubs wurde vom Architekten des Berghains konzeptioniert. Trotz unvollständiger rechtlicher Gleichstellung war die Ukraine ein Hotspot für queeres Leben in Osteuropa.

Einen ähnlichen Hotspot gab es auch im Balkan: Slowenien hat seit den 1980er Jahren eine blühende LGBTIQ*-Community. In dem Land fand das erste queere Filmfestival Europas statt – das „Ljubljana LGBT Film Festival“, 1984 organisiert von der queeren, studentischen Initiative Magnus. Der Club K4 in Ljubljana war insbesondere wegen der queeren Partyreihe „Roza Disko“ ein Magnet für LGBTIQ* aus ganz Jugoslawien.

1977 wurde in fast allen ex-jugoslawischen Teilrepubliken Homosexualität entkriminalisiert, was den Raum für gesellschaftliche Liberalisierung öffnete. Neben Ljubljana waren auch Zagreb und Belgrad zentrale Orte für LGBTIQ*-Aktivismus. Verglichen mit anderen sozialistischen Staaten, erfuhren in Jugoslawien Szenen und Subkulturen jenseits des Mainstream wenig Repression und Zensur. Mit dem aufkeimenden Nationalismus und Zerfall Jugoslawiens, erstarkte allerdings auch die Queerfeindlichkeit in der Region.

PostOst-Pride!

Queere, migrantisierte Menschen hören häufig die Frage, was denn ihre Eltern darüber denken würden. Diese Frage impliziert eine tragische Geschichte des Verstoßenwerdens. Diese gibt es natürlich. Aber meine Eltern haben mich nicht abgelehnt. Sie lieben mich und sind stolz auf mich.

Auch wenn konservative Rollenbilder in Osteuropa verbreitet sind, heißt es nicht, dass alle Menschen in und vor allem aus Osteuropa diese Werte teilen. Die Frage nach der Akzeptanz von Queerness in Osteuropa ist keine, auf die es eine simple Antwort gibt. Sie ist zutiefst ambivalent und beeinflusst von politischen und historischen Umbrüchen. Es ist wichtig, dass die LGBTIQ*-Community in Deutschland, Raum für diese Nuancen schafft – gegen Schwarz-Weiß-Denken und Essentialismus.

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