LGBTIQ* in Tschetschenien gefoltert: Anzeige in Deutschland
2016 begann in Tschetschenien eine Welle brutaler Verfolgung queerer Menschen. Nun wurden fünf hochrangige Vertreter des tschetschenischen Sicherheitsapparats als Tatverdächtige angezeigt – in Karlsruhe. Der Grund: Verbrechen gegen die Menschlichkeit können überall vor Gericht gebracht werden. Die Ermittlungen dürften schwierig werden. Ein Urteil aus Koblenz lässt jedoch hoffen: Dort wurde erstmals ein Folterhelfer nach Völkerstrafrecht verurteilt
Zwölf Tage war Maxim Lapunow gefangen, zwölf Tage lang wurde er verprügelt. Im Verhörraum schlugen sie mit Stöcken auf ihn ein, zwei Männer im Wechsel. Weil er sich mit den Händen zu schützen versuchte, hing am Ende ein Stück Fleisch aus seinem blutig geschlagenen Handballen. Dann gestand er auf Video, was sie hören wollten: „Ich bin schwul. Deshalb hat mich die Polizei verhaftet. Für Schwule ist kein Platz hier in Tschetschenien.“
Im August 2017 fand Maxim den Mut, in Moskau Anzeige zu erstatten. Einige Wochen später schilderte er auf einer Pressekonferenz das Verbrechen – auch stellvertretend für die 30 anderen Gefangenen, die gleichzeitig mit ihm in einem Geheimgefängnis nahe der tschetschenischen Hauptstadt Grosny misshandelt wurden. Doch schon bald stellten die russischen Behörden ihre Ermittlungen ein.
150 Straftaten gegen LGBTIQ* dokumentiert
Nun soll Maxim doch noch Gerechtigkeit widerfahren – nicht in Grosny oder Moskau, sondern in Karlsruhe. Von dort aus soll der Generalbundesanwalt ermitteln. Das European Center for Constitutional and Human Rights e. V. (ECCHR) reichte im Februar Strafanzeige gegen fünf männliche Tatverdächtige ein, gemeinsam mit anderen NGOs.
Auch der Lesben- und Schwulenverband in Deutschland (LSVD) unterstützt die Anzeige. Grundlage ist das Prinzip des Weltrechts. Demnach dürfen schwerste Verbrechen wie Völkermord oder systematische Verfolgung in jedem Land angezeigt und vor Gericht verhandelt werden, selbst wenn sie ganz woanders begangen wurden.
Die Anzeige dokumentiert mehr als 150 Straftaten gegen Schwule, Lesben und trans* Personen. Tschetschenische Sicherheitskräfte sollen sie zwischen 2017 und 2019 ohne offizielle Haftbefehle verschleppt, eingesperrt, gefoltert und einige getötet haben. Zusammengetragen wurden die Informationen durch Aktivist*innen des Russian LGBT Network. Seit dem Beginn der homophoben Verfolgungswelle haben sie rund 200 Betroffenen zur Flucht ins Ausland verholfen.
„Es ist ein Anfang der Aufarbeitung der vielen Straftaten an LGBTIQ* in Tschetschenien“, sagt ECCHR-Generalsekretär Wolfgang Kaleck. „Wenn Deutschland gegen Tatverdächtige ermittelt und Haftbefehle erlässt, würde das ein wichtiges Signal an die russischen Behörden und die Betroffenen senden, dass die Straflosigkeit für diese Taten nicht akzeptiert wird.“
Russische Behörden sperren sich gegen Ermittlungen
Mit seinen Anzeigen gegen Völkerrechtsbrecher*innen baut das ECCHR vor – und kann inzwischen Erfolge vorweisen. Im Februar verurteilte das Oberlandesgericht Koblenz einen Syrer zu viereinhalb Jahren Haft wegen Beihilfe zur Folter in einem Gefängnis der Assad-Regierung – das erste Urteil nach Völkerstrafrecht in der Bundesrepublik.
Die Ermittlungen der Generalbundesanwaltschaft dürften aber nicht einfach werden. Grosny liegt 3.600 Kilometer von Karlsruhe entfernt, und die russischen Behörden haben kein Interesse, die Fälle aufzuklären. In den vergangenen Jahren waren aber einige der fünf Tatverdächtigen in Deutschland und in den Niederlanden zu Gast, zu medizinischen Behandlungen und Boxkämpfen.
„Die Überlebenden würden erstmals sehen, dass sich Ermittler*innen ernsthaft dafür interessieren, was ihnen angetan wurde.“
Veronika Lapina vom Russian LGBT Network wäre schon zufrieden, wenn erstmals echte kriminalpolizeiliche Ermittlungen stattfinden würden: „Die Überlebenden würden erstmals sehen, dass sich nun Ermittler*innen ernsthaft dafür interessieren, was ihnen angetan wurde. Und es würde mehr Leute ermutigen auszusagen.“
Eine von Veronikas Netzwerk-Kolleginnen erhielt im Zuge der Rettungsaktionen Morddrohungen. Trotzdem hat Veronika keine Angst. „Je mehr wir im Scheinwerferlicht stehen, desto mehr Menschen unterstützen unsere Sache.“
Internationale Wachsamkeit
Zuletzt hatte der Dokumentarfilm „Welcome to Chechnya“, der 2020 seine Weltpremiere bei der Berlinale feierte, für Aufmerksamkeit gesorgt. Der US-amerikanische Filmemacher David France hatte die Arbeit des Russian LGBT Network monatelang begleitet.
„Immerhin ist das Thema Homosexualität nun im öffentlichen Diskurs in Tschetschenien angekommen“, erzählt Veronika. „Die Leute behaupten nicht mehr, dass es dort keine Homosexuellen gäbe.“ Am brutalen Alltag habe sich dagegen wenig geändert. Die Strategie des Russian LGBT Network bleibt daher dieselbe: „Die Menschen aus Tschetschenien herauszuholen und in anderen Regionen Russlands unterzubringen.“
Auch Maxim ist mit seinem Freund und seiner Familie ins Ausland geflüchtet. Sein Wunsch, die Gerechtigkeit siegen zu sehen, den er 2017 auf der Moskauer Pressekonferenz äußerte, blieb bisher unerfüllt.
Welcome to Chechnya – Achtung Lebensgefahr! LGBT in Tschetschenien, zu sehen bis 17.07. in der Arte-Mediathek
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