LesMigraS-Gründerin: „Unser Thema war Mehrfachdiskriminierung“
Im Jahr 1999 gründete Saideh Saadat-Lendle LesMigraS: den Antidiskriminierungs-, Antigewalt- und Empowermentbereich der Lesbenberatung Berlin e. V. Dessen Angebote richten sich vor allem an LGBTIQ* of Color, Schwarze LGBTIQ* und Queers mit Migrationsgeschichte. Nun hört Saideh nach fast 25 Jahren bei der Lesbenberatung auf. Im Gespräch mit SIEGESSÄULE zieht sie Bilanz
Saideh, wie war das, als du 1997 bei der Berliner Lesbenberatung angefangen hast? Ich kam aus der autonomen Frauen/Lesbenszene. Entsprechend sah ich aus, kurze Jeanshose und kaputtes Hemd. Drei Frauen saßen vor mir, die für meine Begriffe alle ziemlich bürgerlich aussahen. Ich war sicher, dass sie mich nicht nehmen, so einen autonomen Hippie. Aber dann habe ich mit 10 Stunden als Honorarkraft dort angefangen.
Wie war das, Anfang der 90er-Jahre nach Berlin zu kommen, wie hast du die Szene erlebt? Das war anfangs total befreiend. Sehr aktiv, sehr kollektivistisch. Ich habe in einer großen Frauen/Lesben-WG gewohnt, dort waren auch illegalisierte geflüchtete Frauen dabei. Später gab es dann mehr Trennendes in der Szene, auch Rassismus und der Umgang damit wurden allmählich Thema.
Warum hast du 1999 aus der Lesbenberatung heraus LesMigraS gegründet? Ich hatte Kontakt zu anderen Schwulen und Lesben of Color, und wir haben festgestellt: es fehlen Unterstützungsstrukturen. Zur Lesbenberatung kamen damals nur wenige BIPoC. Es gab zur selben Zeit ein paar Suizidversuche von Lesben und Schwulen of Color. Ich habe alle lesbisch-schwulen und Frauenprojekte angeschrieben, nirgends gab es eine BIPoC-Kolleg*in, die Hilfe anbieten konnte.
Warum habt ihr, LesMigraS und die Lesbenberatung, euch nie ganz getrennt? Das war meine Vision, dass LSBTIQ of Color und weiße LSBTIQ miteinander arbeiten. Die Lesbenberatung hat hauptsächlich Beratung, Gruppenarbeit und Sensibilisierung in Frauenzusammenhängen gemacht. Unser Thema war Mehrfachdiskriminierung, was damals niemand kannte oder verstehen wollte.
„Rassismuserfahrungen von einem Schwarzen Mann oder einer Schwarzen Frau oder einer Schwarzen trans* Person sind jeweils anders”
Was verstehst du selbst genau darunter? Das heißt, dass die Mehrheit der Menschen mehrdimensionale Lebensrealitäten hat, die miteinander verwoben sind. Wenn diese Lebensweisen marginalisiert werden und Menschen diskriminiert werden, findet das auch mehrdimensional statt. Zum Beispiel sind Rassismuserfahrungen von einem Schwarzen Mann oder einer Schwarzen Frau oder einer Schwarzen trans* Person jeweils anders. Ich hatte damals vor, russische, türkische und iranische LSBTIQ zusammenzubringen, und auch dort war es in jeder einzelnen Community schon alleine sehr unterschiedlich.
Gibt es im Rahmen des Konzeptes auch neue Lösungen, um Gesellschaft zu verändern? Mehrfachzugehörige sind an der Schnittstelle von mehreren Lebensrealitäten. Die Auseinandersetzung damit kann die Gesellschaft verändern. Man lernt, dass es ohne ein wohlwollendes, achtsames Miteinander meist Verletzungen gibt, auch wenn man einige gleiche Zugehörigkeiten hat. Es geht nicht um Festlegung auf irgendeine Lebensweise, sondern um Achtsamkeit für alle Lebensrealitäten.
Ist das über LesMigraS hinaus in der Community angekommen? Es ist eine gewisse Offenheit für das Konzept da. Im Unterschied zu früher, da haben es z. B. meine Kolleg*innen anstrengend gefunden zu überlegen: was ist schiefgelaufen, wie kann man achtsamer sein? Das ist besser geworden. Die Arbeit von BIPoC wird wertgeschätzt, der Bedarf wird gesehen, aber es hat sich noch nicht ganz durchgesetzt.
„Die Frage ist, warum Frauen politisch aktiver sind, obwohl Schwule immer betonen, dass sie in Sachen Emanzipation eine längere Tradition haben”
Das scheint mir auch ein sehr lesbisches Schicksal, dass Lesben in der Community nicht so ernst genommen werden? Die Frage ist, warum Frauen politisch aktiver sind, obwohl Schwule immer betonen, dass sie in Sachen Emanzipation eine längere Tradition haben. Aber sich intersektionell, mehrdimensional, antirassistisch, gegen Transphobie zu engagieren, da waren Frauen konsequenter. Aus meiner Sicht hat LesMigraS viel mehr im Bereich Veränderung der Strukturen, Sensibilisierung, Empowerment und Beratung gearbeitet als schwule Organisationen, aber wir haben uns weniger damit gebrüstet. Vielleicht hat uns auch das Verständnis dafür gefehlt. Ich habe immer gedacht, warum muss ich meine Zeit so viel mit Politiker*innen verbringen, warum sehen sie nicht, dass wir wichtige Arbeit machen? Irgendwann haben wir angefangen, unsere Inhalte auf Podien und Konferenzen zu vermitteln. Dadurch sind wir sehr bekannt geworden.
Woher kommt dein Aktivismus? Du warst erst in Iran politisch, später in Berlin lesbenpolitisch, dann für BIPoC aktiv? Vielleicht durch die ungerechte Behandlung meiner Geschwister zu Hause. Auch meine Freundinnen waren in meiner Kindheit von Klassismus betroffen, als Mädchen auch von Frauenfeindlichkeit und Verheiratungen, davon, aus Geldmangel nicht weiter zur Schule gehen zu können. Ich komme aus dem Süden von Iran, in der Nähe von Afghanistan. Dort leben Belutschen, sie sind stark von Klassismus betroffen, das habe ich als Kind mitbekommen. Dieses Wissen war immer da: Diese Gesellschaft muss sich verändern. Dann habe ich mich an der Uni in Iran gegen die Armut im Land engagiert. Wir haben Geld, Essen, Teppiche gesammelt. So bin ich Aktivistin geworden und in die linke Partei eingetreten. Es ging um Redefreiheit, gegen Gefangenschaft und Folter.
Was machst du, wenn du gegen Ende des Jahres bei LesMigraS aufhörst? Ich will weiter Bildungsarbeit machen, ich mache viele Workshops zu Antidiskriminierung, Antirassismus, Empowerment von BIPoC und anderes. Und ich bin auch Ausbilderin von „Eine Welt der Vielfalt“. Daneben möchte ich schreiben, über meine Erfahrungen der letzten 25 Jahre, die schmerzhaften und schönen, krassen und empowernden.
„Was nicht gelungen ist: dass wir einen guten Umgang in der Szene mit Ausschlüssen finden”
Was ist dir besonders gut geglückt und was wünschst du dir noch? Ich fand toll, dass LesMigraS es geschafft hat, für Mehrfachdiskriminierung Verständnis zu schaffen. Was nicht gelungen ist: dass wir einen guten Umgang in der Szene mit Ausschlüssen finden. Bei ungefähr der Hälfte der Beratungen in den letzten Jahren ging es um gegenseitige Verletzungen innerhalb der LSBTIQ und der BIPoC-Community. Viele setzen viel Hoffnung in die Community, haben durch das Coming-out die Familie, die Freund*innen verloren. Mit der ersten Enttäuschung in der Community kommen dann alle Verletzungen hoch, und man begegnet Menschen, denen man sehr nah war, als Feind*in.
Du wirkst dennoch sehr gelassen. Bist du mit den letzten fast 25 Jahren deiner Arbeit zufrieden? Ja, ich konnte so viele kreative Projekte umsetzen, tolle Menschen kennenlernen. Was wir mit LesMigraS geschafft haben, auch bundesweit zu bewegen, ist großartig, und ich bin sehr stolz darauf. Es war mein Herzensanliegen, und ich weiß, dass ich viel bewegt habe.
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