Kultur-Kahlschlag trifft queere Szene
Berlin muss sparen. Der Kulturetat soll womöglich um zehn Prozent gekürzt werden. Das trifft vor allem die freie Szene, marginalisierte Künstler*innen, und die LGBTIQ*-Community, die in der freien Kunst – bis jetzt – immer mehr repräsentiert wird. SIEGESSÄULE-Autorin Louisa Theresa Braun sprach mit Akteur*innen aus der Szene
Ganze 24 Stunden dauerte Heinrich Horwitz’ jüngste Produktion „Flipper“, die im vergangenen Jahr auf der Bühne des Ballhaus Ost in Berlin zu sehen war. Eine aufwendige Choreographie, die Horwitz, nonbinäre*r Regisseur*in, Choreograf*in und Schauspieler*in, nur dank einer Förderung durch den Fonds Darstellende Künste möglich war. Dieser und andere Kulturfonds sollen 2025 jedoch um die Hälfte reduziert werden. Und nun hat auch noch der Berliner Senat enorme Kürzungen im Kulturhaushalt angekündigt. Die Rede ist von etwa zehn Prozent, die genaue Summe steht erst Ende November fest.
Freie, queere und marginalisierte Künstler*innen betroffen
„Wir freien Künstler*innen leben sowieso schon prekär“, sagt Horwitz im Gespräch mit SIEGESSÄULE. Es gebe keine dauerhafte Finanzierung von Projekten, keine Absicherungen, man hangle sich von Antrag zu Antrag. Dass aktuell jedoch viele Förderungen zurückgehalten würden, weil noch nicht klar sei, ob oder wie viel Geld überhaupt ausgezahlt werden könne, „das habe ich noch nie erlebt“. Betroffen seien in der freien Szene viele queere Künstler*innen, die womöglich zuerst darunter leiden, wenn das Geld knapp wird. „Dann setzt sich der von vielen antizipierte Mainstream durch, den es ja in einer pluralistischen Gesellschaft gar nicht mehr gibt“, befürchtet dey.
Horwitz selbst hat neben Schauspiel, Tanz und Performance noch einen Lehrauftrag an der Akademie für Darstellende Kunst Baden-Württemberg und werde sich unter anderem damit noch eine Weile über Wasser halten können. Vielen Kolleg*innen drohe jedoch die Arbeitslosigkeit, die eigenen Schüler*innen werden vielleicht nie eine Chance in der Branche haben. Deshalb startete dey bereits im Juli eine Petition gegen die bundesweiten Kürzungen, die erfolgreich über 36.000 Unterstützer*innen fand. Eine solche gibt es inzwischen auch für die Berliner Landespolitik, initiiert vom Deutschen Bühnenverein Berlin. Darüber hinaus beteiligten sich Mitte Oktober über 100 Theater, Produktionsstätten, Museen und andere Kultureinrichtungen am Aktionstag #BerlinIstKultur. In einem offenen Brief an den Senat und die Abgeordneten verweisen sie auf die Unverhältnismäßigkeit der Sparmaßnahmen und den Folgen, angesichts der Tatsache, dass der Kulturetat nur 2,5 Prozent des Berliner Gesamthaushalts ausmacht.
„Weniger Diversität bei den Angeboten bedeuten Verarmung. Berlin sollte ein inspirierender Ort bleiben.“
Auch die Ankerinstitution der Freien Szene in Berlin, das internationale Produktionshaus HAU Hebbel am Ufer (HAU), nahm am Aktionstag teil. Sollte es tatsächlich zu der angekündigten Kürzung kommen, müsse es deutlich mehr als zehn Prozent des Programms streichen, da Fixkosten wie Miete und Personal kurzfristig nicht reduziert werden könnten, sagt Intendantin Annemie Vanackere gegenüber SIEGESSÄULE. Das treffe wiederum viele freie, queere und andere marginalisierte Künstler*innen sowie Kollektive, die im HAU-Spielplan eigentlich fest verankert seien. Vanackere verweist auf die Performance „Life (Un)Worthy of Life“ der*des queeren und behinderten Künstler*in Perel sowie auf international arbeitende Künstler*innen wie die Argentinierin Marina Otero, die zuletzt mit ihrem Tanzstück „Kill me“ am HAU zu sehen war, in dem vier Tänzerinnen mit psychischen Erkrankungen auftraten.
Wenn man sich diese Produktionen nicht mehr leisten könne, „wäre das ein großer Verlust“, warnt Vanackere. Nicht nur für das HAU und die von ihm abhängigen Kulturschaffenden – laut der Koalition der Freien Szene sind es 40.000 allein in Berlin –, sondern auch für die Hauptstadt selbst und die Menschen, die hier leben. „Weniger Diversität bei den Angeboten bedeuten Verarmung. Berlin sollte ein inspirierender Ort bleiben“, findet sie.
Berlin setzt seinen Kulturstatus aufs Spiel
So sieht das auch Horwitz: „Häuser werden insolvent und wenn sie weg sind, kommerziell genutzt.“. Dabei kämen Menschen aus aller Welt wegen der vielfältigen Kulturlandschaft nach Berlin. „Ich habe große Angst, dass die Stadt ihr Gesicht verliert.“ Ein Verlust wäre das besonders für die LGBTIQ*-Community, da sich die freie Kultur in den vergangenen Jahren zunehmend queeren Themen und marginalisierten Gruppen zugewandt habe. 2021 outeten sich 185 Schauspieler*innen, darunter auch Horwitz, im Rahmen der Kampagne „Act out“ gemeinsam als queer. „Wir erzählen queere Geschichten, erzeugen damit Sichtbarkeit und Repräsentanz“, erklärt dey. Theater könne für LGBTIQ*-Publikum ein Safer Space sein, ein starkes Zeichen für Zusammenhalt und gegen den Rechtsruck. Selbst empowert gefühlt habe Horwitz sich zum Beispiel im Musiktheater „Fiddler! A Musical“ von Ariel Ashbel & Friends am HAU und in „The Voice“ von der Choreographin Rita Mazza im Rahmen des Festivals „Tanz im August“.
Theater könne für LGBTIQ*-Publikum ein Safer Space sein, ein starkes Zeichen für Zusammenhalt und gegen den Rechtsruck.
Vanackere hofft sehr, dass der Berliner Senat die Kürzung, sollte sie kommen, nicht nach dem „Rasenmäher-Prinzip“ vornimmt und ist überzeugt, „dass die Kolleg*innen in der Kulturverwaltung auf Hochtouren arbeiten, um das Schlimmste zu verhindern.“ Mit diesen stehe man in engem Kontakt, wie auch Daniel Bartsch, Sprecher der Senatskulturverwaltung unter Joe Chialo (CDU), auf Anfrage der SIEGESSÄULE mitteilt. „Die Proteste der Kulturschaffenden sehen wir als Aufruf, die geplanten Kürzungen kritisch zu hinterfragen und natürlich auch hart zu verhandeln“, so Bartsch. Das bedeute unter anderem, dass die Einsparquote nicht pauschal auf alles umgelegt, sondern genau geschaut werden sollte, „wessen Schultern mehr tragen können und wo an anderer Stelle die Kürzungen entsprechend niedriger ausfallen könnten, um wichtige Strukturen zu erhalten.“
In den vergangenen Jahre hätten sich die finanziellen Zuwendungen für Kultur in Berlin eigentlich positiv entwickelt, sagt Vanackere. 2012, als sie die künstlerische Leitung des HAU übernahm, erbte sie ein schwer unterfinanziertes Haus, das sich in den vergangenen zehn Jahren jedoch stark stabilisiert und professionalisiert habe. Gerade in der Corona-Krise habe es viel Unterstützung gegeben. „Dieser Prozess darf bitte nicht rückgängig gemacht werden“, sagt sie. Horwitz findet, dass die Gelder noch weiter erhöht werden müssten, da es schließlich eine andauernde Inflation gebe. Für dasselbe Geld könne man heute schon nicht mehr das produzieren, was noch vor einigen Jahren möglich war. Bei einer Kürzung könne die Honoraruntergrenze der freien Szene von 770 Euro pro Woche nicht mehr eingehalten werden. Doch auch dey ist sich sicher, dass es bei den Sparmaßahmen noch Änderungen geben wird, „weil wir zusammenhalten und ein starkes Bündnis bilden“. Der politische Kampf koste zwar einiges an emotionaler Kraft, sei aber gleichzeitig empowernd und erzeuge große Resonanz.
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