Kompromisslos: Queere Pop-Oper von Christine and the Queens

Redcar alias Christine and the Queens gehört ohne Frage zu den wichtigsten und aufregendsten französischen Popkünstler*innen der Gegenwart. Nach seinem kürzlichen Coming-out als trans Mann veröffentlicht der Sänger und Songwriter nun mit „Redcar les adorables étoiles (prologue)“ ein wuchtiges, episches, dunkles und kompromissloses Album
Man kann wirklich nicht behaupten, dass Héloïse Adélaïde Letissier alias Chris alias Redcar es seinen Fans leicht machen würde: Ab 2010 trat der 1988 in Nantes geborene Sänger, Tänzer und Songwriter als Christine and the Queens auf – nicht etwa mit Band, sondern verwirrenderweise als Soloact. Der Zusatz „the Queens“ war Letissiers Hommage an eine Londoner Dragshow-Truppe, die ihn sehr beeindruckt und überhaupt erst zu eigenen Auftritten inspiriert hatte.
Mit dem Debütalbum „Chaleur Humaine“ (2014) wurde Christine and the Queens aus dem Stand zum Superstar in Frankreich und weit darüber hinaus, Kooperationen mit queeren Künstler*innen wie Perfume Genius und gefeierte Shows z. B. beim Coachella-Festival oder in Glastonbury schlossen sich an. 2018 verkürzte Letissier – der inzwischen sein Coming-out als nicht binär vollzogen hatte – den Künstler*innennamen schlicht auf Chris und veröffentlichte ein gleichnamiges Album, das zu Christine and the Queens synthielastigem Frenchpop zusätzlich Soul- und R’n’B-Elemente hinzufügte. Chris‘ spektakulärer Auftritt bei „RuPaul’s Drag Race“ sorgte für verstärkte Aufmerksamkeit auch in den USA.
Nach der melancholischen Single „People, I’ve Been Sad“, gemeinsamen Aufnahmen mit Charli XCX, Caroline Polachek und einer EP mit dem vielsagenden Titel „La Vita Nuova“ benannte sich Chris erneut um. Die Wahl fiel – reichlich unglücklich – auf den arabischen Vornamen Rahim, der im Koran einer der 99 Namen für Allah ist. In der französischen Presse begann eine heftige Debatte über kulturelle Aneignung, in der zusätzlich ziemlich respektlos über Chris‘/Rahims psychischen Zustand spekuliert wurde.
Coming out als trans Mann
Im Sommer 2022 gab Letissier bekannt, bereits seit gut einem Jahr als Mann zu leben und künftig männliche Pronomen zu verwenden. Natürlich musste auch ein neues Alter Ego her: Unter dem unverdächtigen Moniker Redcar, im Verständnis des Künstlers ein „höflicher und anspruchsvoller“ Begriff, erschien die Single „Je te vois enfin“. Dieser Song würde eine neue Ära einläuten, versprach Redcar.
Das entsprechend ambitionierte neue Album sollte bereits im September erscheinen, die Veröffentlichung musste jedoch verschoben werden, weil sich der Künstler bei Konzertproben verletzt hatte.
Queere Pop-Oper
Am 11. November erschien „Redcar les adorables étoiles (prologue)” nun endlich: Gemeinsam mit US-Producer Mike Dean, der schon mit Lana Del Rey und Jay-Z zusammenarbeitete, entstand eine queere Pop-Oper in dreizehn Tracks, die man einfach „nur so“ anhören kann – aber rasch wird deutlich, dass „Les adorables …“ der musikalische Teil einer großen Show ist, die mit der unmissverständlichen Ansage „Ma bien aimée bye bye“ („Meine Geliebte bye bye“) beginnt. Immer wieder sind Zwischenrufe und Regieanweisungen („depeche-toi!“/„Beeil dich!“) zu hören, von Redcar selbst und von anderen Beteiligten.
In den Songs schimmern Christine and the Queens Anfänge als Frenchpop-Act mit Chanson- und Electro-Anleihen zwar deutlich durch, besonders auf der starken Single „La Chanson du Chevalier“ und dem bereits genannten „Je te vois enfin“.
Das Hauptaugenmerk liegt aber auf der Performance: Flächige Synthie-Parts lassen viel Raum für Tanz- und Schauspieleinlagen, es ist evident, dass zu dieser Musik Bilder gehören beziehungsweise Redcars eindrucksvolle Bühnen-Persona. Vor allem das dramatisch angelegte, über acht Minuten lange „Combien des temps“ sprengt den üblichen Pop-Rahmen. In den französischen und englischen Lyrics geht es um buchstäblich alles: um Liebe, Tod, Abhängigkeit, Verzweiflung, Transformation – aber auch um Hoffnung und Schönheit, zum Beispiel im zärtlichen „La Clairefontaine“ und dem erotisch stark aufgeladenen Schlusstrack „Les Ames Amantes“. Kein leicht goutierbarer Stoff, aber, wie gesagt, was ist schon einfach bei Redcar?
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