Kommt der große Aufbruch in der Queerpolitik?
Als der Koalitionsvertrag der Ampelparteien im November vorgestellt wurde, knallten in der Community die Korken. Denn der Vertrag stellt in Aussicht, langjährige queerpolitische Forderungen endlich umzusetzen: vom Grundgesetz über die Öffnung der Blutspende bis hin zum Selbstbestimmungsgesetz. Doch wird die neue Regierung auch halten, was sie verspricht? Wir baten Henny Engels vom LSVD um eine Einschätzung
Frau Engels, was haben Sie gedacht, als Sie den Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP gelesen haben? Um es salopp zu sagen: Ich war entzückt. Ich glaube, es hat noch nie einen Koalitionsvertrag gegeben, der den LGBTIQ*-Themen so viel Platz einräumte. Es ist offensichtlich ein Gesellschaftsbild damit verbunden, das die Vielfalt der Realität besser abbildet als bisher.
Der Vertrag sieht unter anderem einen „Nationalen Aktionsplan“ gegen LGBTIQ*-Feindlichkeit vor. Wie müsste ein solcher Plan aussehen, damit er Erfolg hat? Inhaltlich müssen hier zwei Schienen bedient werden. Einmal eine positive Annäherung an LGBTIQ*-Themen auf allen möglichen Ebenen. Wichtig sind da natürlich Bildungs- und Jugendarbeit. Bei der Bildungsarbeit muss auch die Erwachsenenbildung mit einbezogen werden, sonst schaffen wir Konfliktsituationen für die Kinder zu Hause. Das Thema LGBTIQ* muss natürlich in die Curricula für die Schulen, aber nicht als Sonderfach, sondern es sollte selbstverständlich als Lebensrealität in allen Fächern vorkommen. Die Bundesregierung sollte hier auf die Länder einwirken. Ein weiterer Punkt ist, dass die Beratung von LGBTIQ* in die Regelstrukturen eingebracht werden muss. Der LSVD hat das beim Thema Regenbogenfamilien erlebt: Die allgemeinen Ehe- und Familienstellen gaben damals an, dass sie dazu keine Expertise hätten. Die zweite inhaltliche Schiene ist LGBTIQ*-feindliche Gewalt. Wenn wir sehen, dass transphobe und homophobe Vorfälle zunehmen, dann muss da deutlich dagegengehalten werden. Das gehört in die Aus- und Weiterbildung von Polizei und Justiz.
„Ich glaube, dass diese Regierung die Abschaffung des 'Transsexuellengesetzes' sehr schnell angehen wird“
Die Ampel verspricht auch, endlich das „Transsexuellengesetz“ (TSG) abzuschaffen und ein Selbstbestimmungsgesetz einzuführen. Statt, wie bisher, vor Gericht zu gehen und psychologische Gutachten vorlegen zu müssen, könnten trans* Personen dann ihren Geschlechtseintrag einfach per Selbstauskunft auf dem Amt ändern lassen. Wie schnell könnte ein solches Gesetz denn jetzt kommen? Es gab hierzu schon viel Vorarbeit, unter anderem durch die zwei Gesetzesentwürfe, die Grüne und FDP in den letzten Jahren vorgelegt haben. Daran kann man weiterarbeiten. Ich glaube, dass diese Regierung das sehr schnell angehen wird. Sie will das bestehende TSG abschaffen und das Recht auf Selbstbestimmung einführen. Das finden wir wichtig. Aber wir sollten nicht unterschätzen, dass wir hier eine gesellschaftspolitische Begleitung brauchen. Die Debatte mit den Gutwilligen ist wichtig, damit auch die Akzeptanz für trans* Personen steigt. Ich zitiere da gern ein schwules Paar, das nach der Abschaffung des § 151 StGB in der DDR sagte: „Die Gesetze waren gnädig, die Gesellschaft war es nicht.” Das darf uns beim Selbstbestimmungsgesetz auf keinen Fall passieren.
In Deutschland werden queere Familien immer noch diskriminiert. Das Abstammungsrecht behandelt sie anders als hetero Familien. Ein weiteres Versprechen im Koalitionsvertrag: Regenbogenfamilien gleichzustellen. Wie realistisch ist es, dass dies bald umgesetzt wird? Die Ampelkoalition teilt weitgehend unsere Vorstellungen über die Anerkennung und rechtliche Absicherung der Vielfalt an gelebten Familienformen: wie Zwei-Mütter-Familien, Zwei-Väter-Familien, Mehrelternfamilien oder Familien mit trans- und intergeschlechtlichen Eltern. Die Absicherung von Zwei-Mütter-Familien kann sehr schnell erfolgen; auch hier gibt es ja bereits zahlreiche Vorarbeiten aus der letzten Legislatur. Wir erwarten, dass die Regierung handelt, bevor das Bundesverfassungsgericht nachhelfen muss. (Aktuell werden in Deutschland einige Klagen lesbischer Mütter vor Gericht verhandelt, Anm. d. Red.) Die anderen abstammungsrechtlichen Fragen, beispielsweise zum Thema Mehrelternschaft, sollten auch unbedingt in dieser Legislatur gelöst werden. Hier wird es aber mehr Zeit brauchen, weil die gesellschaftliche und politische Debatte dazu noch am Anfang steht.
Es gab viel Lob von queerer Seite für den Koalitionsvertrag. Aber auch Kritik: Die Linken-Fraktion hat zum Beispiel bemängelt, dass im Vertrag ein „queerer Rettungsschirm“ nicht mehr genannt wird – das heißt Hilfen für die Community in der Corona-Krise. Ich finde es schade, dass das nicht mehr im Koalitionsvertrag steht. Andererseits gehe ich aber davon aus, dass es Unterstützung geben wird, wenn queere Strukturen nachweislich durch die Corona-Krise in ihrer Existenz gefährdet sind. Der nationale Aktionsplan ist auch mit 70 Millionen untersetzt. Es wäre zum Beispiel denkbar, einen Teil dieses Geldes für den Erhalt von Community-Strukturen einzusetzen.
„Wenn es tatsächlich den versprochenen Aufbruch gibt, käme auch eine Nachfolgeregierung aus diesem Prozess nicht mehr heraus“
Eine weitere langjährige Forderung der queeren Community ist, den Schutz von LGBTIQ* im Grundgesetz, Artikel 3, zu verankern. Die Koalition will nun, dass „sexuelle Orientierung“ im Artikel 3 erwähnt wird, der Zusatz „geschlechtliche Identität“ ist aber nicht vorgesehen. Wie stehen Sie dazu? Ich würde mir wünschen, dass die Grundgesetzänderung sehr schnell angegangen wird. Aber auch dafür brauchen wir einen breiten gesellschaftlichen Diskurs. Für manche ist das Grundgesetz ja unantastbar. Zudem brauchen die Regierungsparteien 37 Stimmen aus der Opposition sowie die Zustimmung der 16 Bundesländer. Das heißt, wir müssen die Diskussion wieder aufnehmen und das Ziel benennen. Wir wollen einen umfassenden Schutz für alle, auch für die, die aufgrund ihrer geschlechtlichen Identität der Gefahr ausgesetzt sind, diskriminiert zu werden. Ich würde mir wünschen, dass wir innerhalb dieses Prozesses eine Formulierung finden, die verfassungsrechtlich sicher ist und die signalisiert, dass auch wirklich alle gemeint sind.
Können wir hoffen, dass alle queerpolitischen Versprechen, die der Koalitionsvertrag bereithält, in den nächsten vier Jahren wirklich abgearbeitet werden? Ich denke, dass sich die neue Regierung darum bemühen wird, große Schritte zu gehen. Wichtig ist, dass sie diesen Prozess jetzt in die Gänge bringt. Der LSVD hat Forderungen für die ersten 100 Tage aufgestellt, wie zum Beispiel den Schutz queerer Geflüchteter zu verbessern oder erste Anpassungen im Abstammungsrecht, die man schnell umsetzen sollte. Wenn es tatsächlich den versprochenen queerpolitischen Aufbruch gibt, dann käme auch eine Nachfolgeregierung aus diesem Prozess nicht mehr heraus.
Folge uns auf Instagram
#Selbstbestimmungsgesetz#Regenbogenfamilien#Grundgesetz#Blutspende#Ampel-Parteien#Ampel-Koalition#Koalitionsvertrag#Abstammungsrecht#LSVD