Kann das Selbstbestimmungsgesetz wieder abgeschafft werden?
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Weniger als ein halbes Jahr nach Inkrafttreten ist das Selbstbestimmungsgesetz bereits in Gefahr. Am 23. Februar stehen die vorgezogenen Bundestagswahlen an, während Parteien wie die AfD, CDU und das BSW das Gesetz bzw. seine Abschaffung als Wahlkampfmittel instrumentalisieren
Am 1. November 2024 ist das Selbstbestimmungsgesetz (SBGG) in Kraft getreten, welches das veraltete und verfassungswidrige Transsexuellengesetz (TSG) von 1981 abgelöst hat. Lange war darum gerungen und gestritten worden. Am Ende war es nicht perfekt, aber stellte dennoch eine progressive Errungenschaft dar.
Nun kann eine Änderung des Geschlechtseintrags und der Vornamen durch eine persönliche „Erklärung mit Eigenversicherung“ gegenüber dem Standesamt erfolgen. Bereits vor der Einführung des SBGG stieg in den letzten 15 Jahren die Anzahl der Personen, die ihren Vornamen und Geschlechtseintrag ändern lassen wollten, kontinuierlich an. Seit Inkrafttreten des neues Gesetzes erhöhte sich die Zahl sprunghaft auf über 6.000 Anträge, wovon ein Sechstel auf Berlin fällt.
Ein Gesetz mit Lücken
Bela ist einer der vielen Menschen, die gerade den Prozess durchlaufen und auf den offiziellen Bescheid der Änderung warten. Für ihn bedeutet das Gesetz freie Entscheidungsgewalt über die eigene Identität, die lange durch andere fremdbestimmt war. Außerdem sei es ein weiterer, wichtiger Schritt zur Anerkennung von trans* Identitäten durch Staat und Gesellschaft. „Ich freue mich schon auf meinen neuen Ausweis”, sagt Bela im Gespräch mit SIEGESSÄULE, „bisher habe ich den Ergänzungsausweis erfolgreich genutzt, jedoch sorgte er oft für Verwirrung und Erklärungsnot. In meinem Fall meist unproblematisch, aber auch irgendwie lästig, wenn man einfach nur Alltagsgeschäfte erledigen will.”
Trotz der Erleichterungen durch das SBGG gibt es weiterhin Bedenken aus der trans* Community. Unter anderem ist es nicht mehr möglich, Geschlechtseintrag und Vornamen unabhängig voneinander zu ändern. Eine nachvollziehbare Begründung gibt es dafür nicht. „Dadurch wird das Gesetz der Vielfalt geschlechtlicher Identitäten und der Lebensrealität queerer Personen nicht gerecht. Viele nicht binäre Personen werden quasi von der Nutzung des SBGG ausgeschlossen, wenn sie nur ihren Vornamen ändern lassen wollen, aufgrund von Angst vor Diskriminierungserfahrungen jedoch ihren bisherigen Geschlechtseintrag behalten wollen“, erklärt der Bundesverband Trans* (BVT*) im Interview mit SIEGESSÄULE.
Personen, die vor dem 1. November 2024 bereits im alten TSG-Verfahren waren, haben auch mit den neuen Regelungen Probleme. So berichtet beispielsweise Mari: „Bei mir wurde bereits der Geschlechtseintrag geändert, aber noch nicht der Vorname. Ich kann keinen Wechsel von weiblich auf weiblich beantragen, um den Vornamen richtigzustellen.”
„Problematisch bleibt weiterhin, dass trans* Personen mit fadenscheinigen Begründungen von bestimmten Einrichtungen ausgeschlossen werden können.“
Problematisch bleibt weiterhin, dass trans* Personen mit fadenscheinigen Begründungen von bestimmten Einrichtungen ausgeschlossen werden können. Darunter leiden besonders weibliche trans* Personen, wenn es um spezielle Schutzräume wie Frauenhäuser geht. „Der Abschnitt zum Hausrecht müsste gestrichen werden“, fordert der BVT*. Weitere großen Lücken gebe es beim Thema Elternschaft. Das Abstammungsrecht kennt nur die Begriffe „Mutter“ und „Vater“ und schließt so nicht-binäre und intergeschlechtliche Personen aus.
Aktuell gilt eine Interimsregel, die einem Zwangsouting gleichkommt und Personen mit dem Eintrag „divers” von rechtlicher Elternschaft ausschließt. Die aktuelle Ampel-Regierung wollte sich diesem Problem in ihrer Legislaturperiode widmen, was aber durch die vorgezogenen Neuwahlen nicht mehr erfolgen wird.
Instrumentalisierung von rechts
Schlimmer noch, das SBGG wird aktuell für politische Zwecke instrumentalisiert. So gibt es den Fall des bekannten Neonazis Liebich, der im November seinen Geschlechtseintrag von männlich auf weiblich ändern lies. Reine Provokation, um populistische Angstfantasien zu schüren. Das Landgericht Halle verhängte im Sommer 2024 unter anderem wegen Volksverhetzung eine Freiheitsstreife. Aktuell läuft noch die Revision. Liebichs neue Strategie: Medien verklagen, die den alten Vornamen oder die alte Geschlechtsbezeichnung verwenden, schließlich wurde der Personenstand zu „weiblich“ und der Name zu „Marla-Svenja Liebich“ geändert. Die Bundesregierung geht davon aus, dass die Klagen scheitern werden – es ist offensichtlich, dass Liebich das Gesetz nur lächerlich machen will.
Einige Medien stellten außerdem die Frage, ob Liebich nun in ein Frauengefängnis untergebracht werden müsse – das würde dem Neonazi sogar in die Karten spielen, um die vermeintliche Gefahr für Frauen zu untermauern. Tatsächlich existiert aber weder das Recht selbst zu entscheiden noch ein Automatismus, der regelt, in welche Strafvollzugsanstalt eine Person kommt. Es sind immer Einzelfallentscheidungen, daran ändert auch das SBGG nichts. Im Gegenteil: Es wird zusätzlich geprüft, ob eine missbräuchliche Änderung des Personenstands vorliegt.
SBGG als Sündenbock
Im Wahlkampf zur vorgezogenen Bundestagswahl missbrauchen populistische und reaktionäre Parteien das SBGG, um Angst gegenüber trans*, inter und nicht-binären (TIN*) Menschen zu schüren. Sie postulieren eine Gefahr für die Gesellschaft und den sozialen Frieden und bringen dadurch TIN*-Personen in Gefahr. Denn diese Falschbehauptungen fördern Ressentiments und setzen queere Menschen dem Risiko von Diskriminerung und Gewalt aus. In Wahlkampfauftritten machen Parteien gegen das Selbstbestimmungsgesetz Stimmung, da es ein praktischer Sündenbock ist. So lässt sich außerdem von den tatsächlich wichtigen politischen Herausforderungen ablenken
Die CDU/CSU schreibt in ihrem Wahlprogramm: „Wir schaffen das Selbstbestimmungsgesetz der Ampel wieder ab. Der Jugendschutz und das Erziehungsrecht der Eltern dürfen nicht untergraben werden.“ Dabei regelt das Gesetz ganz klar, dass Minderjährige bis 14 Jahre nicht ohne die Zustimmung der Eltern eine Erklärung abgeben können. Bei allen Minderjährigen muss die Erklärung auch die Versicherung enthalten, dass eine Beratung erfolgt ist. Eine Abschaffung des Gesetzes wäre ein Schlag ins Gesicht von queeren Jugendlichen. In diesem Punkt stimmt Bela zu: „Bürgerrechtliche und queere Belange werden mit Füßen getreten, die Sicherheit von Frauen und Mädchen vorgeschoben, entgegen jeglicher Faktenlage.”
Noch schärfer als die Union formuliert es die AfD: „Das Selbstbestimmungsgesetz ist vollumfänglich zurückzunehmen. Es darf keine Indoktrination von Kindern und Jugendlichen durch Trans-Kult, Frühsexualisierung und Genderideologie geben. Jede staatliche Förderung dafür muss eingestellt werden. Die Behandlung hinsichtlich einer Geschlechtsumwandlung darf nur unter strenger ärztlicher Betreuung und erst ab Volljährigkeit stattfinden. Zuvor müssen psychologische Beratungsgespräche erfolgen.”
„Wenn das Gesetz jetzt wieder abgeschafft wird, fürchte ich, dass im zweiten Zug auch der Zugang zu wichtigen Medikamenten, Hormonen oder Operationen massiv schwerer werden wird.”
Luca sieht darin Parallelen zu den aktuellen Entwicklungen in den USA unter Präsident Trump. „Wenn das Gesetz jetzt wieder abgeschafft wird, fürchte ich, dass im zweiten Zug auch der Zugang zu wichtigen Medikamenten, Hormonen oder Operationen massiv schwerer werden wird.”
Abschaffung des SBGG – eine reale Gefahr?
Aber könnte die nächste Regierung wirklich das Gesetz einfach wieder abschaffen? Grundsätzlich kann eine neue Regierung mit der nötigen Stimmenmehrheit im Bundestag Revisionen vornehmen und Gesetze außer Kraft setzen. Allerdings müsste gleichzeitig ein neues Gesetz beschlossen werden, das die Änderung von Geschlechtseintrag und Vornamen regelt. Die Gefahr einer Abschaffung des SBGG ist also real, auch wenn sie nicht von heute auf morgen erfolgen kann.
Allein die Drohung wird in der Community jedoch mit großer Sorge betrachtet. „Ich habe Angst, dass eine rechtskonservative Regierung das Gesetz wieder abschafft”, meint Bela, „geplant war meine Namensänderung schon für Ende letzten Jahres vor dem Bruch der Ampel. Ich war erleichtert meinen Termin nun Ende Januar wahrnehmen zu können.“ Viele Menschen haben sehr lange auf dieses Gesetz warten müssen. „Meine Wut darüber, dass es trans Personen erneut verwehrt bliebe, wäre grenzenlos,“ bringt Bela auf den Punkt. Die Abschaffung des SBGG wäre ein katastrophaler Rückschritt für unsere Gesellschaft.
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