Kampf gegen russischen Imperialismus: Queere Postost-Community in Berlin
Die Situation in der Ukraine wirkt sich auch auf die queeren, migrantischen Communitys in Berlin aus. Wir sprachen mit Quarteera-Vorstandsmitglied Dmitrij Paramonov darüber, wie der Verein für russisch sprechende LGBTIQ* mit nationalistischen Spannungen und Konflikten in den eigenen Reihen umgeht und welche Rolle dabei der Begriff „PostOst“ spielt
Seit einigen Jahren gewinnt der Begriff „PostOst“ immer mehr an Beachtung. Er beschreibt u. a. eine Community von Menschen in Deutschland mit Migrationsgeschichten in den ehemaligen Ostblockstaaten. Wie bewertest du das? „PostOst-Community“ suggeriert einen gewissen Zusammenhalt. Ich bin mir nicht sicher, ob so etwas überhaupt existiert. Vielmehr ist das eine kon-struierte Gruppierung von Menschen nach einem bestimmten Migrationshintergrund.
Was ist dann das politische Potenzial des Begriffs „PostOst“ aus deiner Sicht? Er ist hilfreich, um sich beispielsweise gegen die Kolonialisierung durch den russischen Imperialismus zu organisieren. „PostOst“ kann für Aktivismus jenseits nationalistischer Grenzen stehen. In der Sowjetunion hat in allen Republiken eine Russifizierung stattgefunden. Russisch war Amtssprache, die Sprache der Wissenschaft, der Kultur – lokale Sprachen wurden unterdrückt. Innerhalb Russlands sind auch viele kolonialisierte Völker zu finden.
Hat die Dominanz der russischen Sprache einen Einfluss auf die migrantischen Communitys in Deutschland? Quarteera richtet sich zum Beispiel an „russisch sprechende LGBT in Deutschland“. Die Idee war aber nie, die Russifizierung weiter zu reproduzieren, sondern die russische Sprache als Lingua franca zu verwenden, weil sie immer noch eine sehr große Verbreitung im PostOst-Gebiet hat. Oft helfen in der Arbeit mit Geflüchteten Übersetzungen ins Englische nicht weiter und der Pool an Dolmetscher*innen für z. B. Ukrainisch ist kleiner. Trotzdem ist mir wichtig, dass hier auf keinen Fall ein kleines Russland oder ein kleines PostOst-Gebiet entsteht.
Wenn ich im aktivistischen Kontext zum Beispiel Ukrainer*innen treffe, dann frage ich immer: „Darf ich deine Frage auf Russisch beantworten oder wollen wir bei Englisch bleiben?“ Ich selbst wurde übrigens in Russland geboren, bin aber mit fünf Jahren nach Litauen gezogen, wo ich den Großteil meiner Kindheit und Jugend verbracht habe. Seit 1998 bin ich in Deutschland und besitze seit 2008 die deutsche Staatsbürgerschaft. Die russische Staatsangehörigkeit hatte ich nie gehabt.
„Queere Menschen sind in vielen PostOst-Ländern ein Symbol für westliche Werte."
Was würde es bedeuten, den PostOst-Raum zu „dekolonialisieren“? Es ist in erster Linie der Kampf gegen russischen Imperialismus. Queere Menschen sind in vielen PostOst-Ländern ein Symbol für westliche Werte. Somit ist schon die Unterstützung der LGBTIQ*-Community durch Quarteera e. V. ein Stück Freiheit von „russischen“ Werten und dadurch eine Minderung des Einflusses durch den russischen Imperialismus.
Queer zu sein bedeutet aber nicht, komplett von konservativen oder imperialistischen Wertvorstellungen frei zu sein. So arbeitet Quarteera auch viel innerhalb der eigenen queeren und postmigrantischen Community, um Menschen darüber aufzuklären, was koloniales Denken ist und wie Menschen sich oder andere ein Stück mehr davon befreien könnten.
Ist der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine auch eine Belastung für die LGBTIQ*- und PostOst-Community in Deutschland? Russische Symbolik, Traditionen und Werte wurden verstärkt von der Putin-Propaganda eingenommen und instrumentalisiert – die Flagge, die Sprache, der „Tag des Sieges“ am 9. Mai ... All das sind Trigger in der PostOst-Community geworden. Wir versuchen bei Quarteera sensibel damit umzugehen und prüfen Vorschläge in der Runde, wenn wir zum Beispiel Aktionen planen. Wir vergewissern uns immer bei unseren ukrainischen Mitgliedern. Oft kommt es nicht zu einer eindeutigen Meinung, daher gibt es auch Votings oder ein Veto. Das ist tatsächlich eine organisatorische Belastung, die auch kreative Ideen einschränkt.
Wie geht ihr mit Konflikten und nationalistischen Spannungen bei Quarteera um? Es gibt immer wieder Vorfälle, wo wir russischem Imperialismus bzw. Chauvinismus begegnen. Manchmal wird das unbewusst reproduziert, manchmal aber auch bewusst und mit Stolz. Das ist eine wichtige Differenzierung, weil im ersten Fall ein Dialog vorsichtig aufgebaut werden kann, der ein Überdenken bei den Menschen auslöst. Im zweiten Fall geht es meistens nur darum, uns von diesen Menschen abzugrenzen.
„Die toxische Maskulinität, die in Russland aus allen Schichten der Gesellschaft unterstützt wird, führte zu einer noch stärkeren Marginalisierung von Queerness."
Unter anderem in Russland wird Queerness als eine Erfindung und Gefahr des Westens dargestellt. Woher kommt diese Darstellung? Eine gewisse Normalisierung von Queerness in den letzten 50 Jahren im Westen und eine stärkere Sichtbarkeit durch jährliche Prides trugen dazu bei, dass eine Assoziationsbrücke zwischen Westen und Queerness enstand. Stetig sinkenden Populationszahlen in Russland, die Angst der russischen Nationalist*innen auszusterben und der Aufruf, mehr russische Kinder in die Welt zu setzen, stehen ihrer Meinung nach im direkten Widerspruch zu Queerness. LGBTIQ*-Aktivist*innen kämpfen schließlich gegen den konservativen, heteronormativen Erwartungsdruck, eine Familie zu gründen und viele Kinder zu gebären.
Die toxische Maskulinität, die in Russland aus allen Schichten der Gesellschaft unterstützt wird, führte zu einer noch stärkeren Marginalisierung von Queerness. Durch die Verbreitung des Mythos, dass Queerness ansteckend sei, wurde versucht die Bevölkerung zu einer Selbstisolation zu verleiten und den Westen als eine Epidemiequelle anzusehen. Dadurch erscheint der Krieg gegen den Westen ein Krieg gegen Queerness zu sein, gegen das Aussterben, also ums Überleben Russlands. Was natürlich sehr motivierend und nützlich für die Propaganda ist.
Wie unterstützt Quarteera PostOst-Migrant*innen aktuell? Am Anfang des Krieges haben viele deutsche Organisationen angefangen den ukrainischen Flüchtlingen zu helfen. Das hatte auf jeden Fall etwas Positives. Es entstand aber dadurch auch ein Machtgefälle. Quarteera hat sich bewusst gegen dieses Machtgefälle eingesetzt und beim Gründen eigener ukrainischer Initiativen geholfen – Hilfe zur Selbsthilfe. Damit eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe statt eines Abhängigkeitsverhältnisses entsteht. Das ist auch ein Beitrag zur Dekolonialisierung Deutschlands – gegen den westlichen „Retterkomplex“.
Einige queere Migrant*innen, die länger in Deutschland sind, befinden sich in sehr konservativen Umgebungen ihrer Verwandten und der Familie. Quarteera versucht in diesen Situationen an Menschen mit wenig Berührungspunkten zur queeren Community heranzutreten und sie aufzuklären. Damit durch das Ablegen der Vorurteile eine Normalisierung entsteht und ein Dialog mit queeren Menschen, eventuell mit den eigenen Kindern und Verwandten, (wieder-)aufgebaut werden kann. Quarteera macht immer wieder Projekte u. a. für die Eltern und Angehörigen queerer Menschen.
Was sind aktuell die Probleme für queere PostOst-Migrant*innen und Geflüchtete in Deutschland, insbesondere aus der Ukraine? Für vor Kurzem eingetroffene queere Migrant*innen ist eines der größten Probleme der Wohnraum. Momentan sind viele von diesen Menschen in Wohnheimen, die nicht die besten Bedingungen haben. Zusätzlich müssen viele queere Menschen in einem Zimmer mit queerfeindlichen Leuten zusammenleben. Es entstehen Spannungen, Konflikte und Übergriffe. Das Sicherheitspersonal und Betreibende der Asylheime priorisieren nicht unbedingt die Lösung dieses Problems.
Da die Wohnraumsituation momentan insgesamt sehr angespannt ist, haben Menschen auch sehr geringe Chancen, aus dem Heim auszuziehen und diese feindliche Umgebung zu verlassen. Es gibt natürlich einige LGBTIQ*-Wohnheime. Diese reichen aber nicht aus. Wir versuchen momentan, eigene Wohnheime aufzubauen. Leider machen zahlreiche Hürden und Bearbeitungszeiten dieses Vorhaben zu einem sehr langfristigen Projekt. Auch wenn zum Beispiel das Land Berlin momentan einige Grundstücke für nicht kommerzielle Organisationen anbietet, ist der Weg zum tatsächlichen Wohnheimgebäude sehr schwierig. Es wäre schön, wenn der Staat einen eindeutigen und dadurch schnellen und einfachen Weg zum Bau der Wohnheime festlegen würde. Es geht nicht nur um Finanzmittel, sondern um die Planungssicherheit und Risikominimierung für nicht kommerzielle Organisationen wie Quarteera.
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