Ist die Atemmaske das neue Kondom?
Dirk Ludigs zieht in seinem neuen Bewegungsmelder den Vergleich zwischen dem „Siegeszug" des Kondoms in den 80er-Jahren und den Atemmasken in der aktuellen Pandemie. Denn beide sind ein Symbol für einen selbstverantwortlichen Umgang mit Krisen
Eine Maske ist dem Covid sein Pariser …
… und bevor gleich der Shitstorm losbricht: Natürlich hinkt der Vergleich zwischen einem Mund-Nase-Schutz und einem Kondom. Und natürlich ist Covid-19 nicht Aids: Andere Übertragungswege, andere Risikogruppen, andere Sterblichkeitsrate.
Es geht mir deshalb nicht so sehr darum, ob und wie sehr Masken die Tragenden oder ihre Gegenüber vor Ansteckung schützen. Ganz überflüssig sind sie wahrscheinlich nicht. Dass es bei einer Tröpfcheninfektion einen Unterschied macht, wie viele Tröpfchen ich wie weit in die Umgebung huste oder aus ihr einatme, könnte auch Laien einleuchten.
Hoffnung auf eine neue Normalität
Mich treibt eine andere Frage um, die auch Aids-Aktivist*innen in den Achtziger Jahren beschäftigte: Wie geraten wir als Risikogruppe, aber auch als Gesellschaft insgesamt, aus einer Situation, die zwischen Hysterie und Verharmlosung, zwischen Verboten und Zumutungen pendelt, hinein in eine Situation, die wieder eine Perspektive eröffnet, die ein Leben mit dem Virus, mit der Epidemie erlaubt und eine Hoffnung auf eine neue, wenn auch veränderte Normalität bietet?
Das Kondom war als Antwort auf die Aids-Katastrophe zunächst umstritten. Die Bedenken und Widerstände waren riesig und manche Einwände sind ja bis heute berechtigt. Kondome sind nun mal per se nicht sexy und schwer überzustülpen sind sie auch. Manche verlieren mit Kondomen ihre Standfestigkeit, andere reagieren allergisch auf Latex.
Vor Aids assoziierten schwule Männer mit Kondomen zudem vor allem Heterosexualität und Schwangerschaftsverhütung. Den Pariser nicht benutzen zu müssen, war so etwas wie ein Teil von Gay Pride: Immerhin das haben wir euch voraus! Die Assoziation von Schutzmasken mit asiatischen Menschen bei einigen Mitteleuropäern fällt wahrscheinlich in eine ähnliche Kategorie des Othering.
Die Argumente gegen das Kondom lauteten: Schwule ziehen so was eh nicht an! Oder: Schwule werden nicht verstehen, dass man damit keine Vaseline verwenden darf! Auch wie sehr Gummis vor Ansteckung schützten, war zu Anfang unklar. Es gab diejenigen, die sagten, wir müssten trotz HIV so weiterficken, denn die Alternative sei kein lebenswertes schwules Leben mehr. Es gab die Besorgten, die sagten, wir müssten ganz aufhören Sex zu haben, und Kondome seien ein Irrweg, weil sie falsche Sicherheit suggerierten. Und dann gab es nicht wenige, die nicht mehr mit dir schlafen wollten, sobald du ein Kondom ausgepackt hattest, weil sie glaubten, du hättest Aids.
Das Gummi als wirkmächtiges Symbol
Das Gummi wurde in der Krise dann doch recht schnell zu einem probaten Mittel, die Infektionszahlen zu senken. Noch schneller wurde das Gummi aber zu einem wirkmächtigen Symbol. Es stand für die Botschaft: „Die Gefahr ist beherrschbar!“ Es verschaffte in der Misere eine Perspektive. Es wirkte der Untergangsstimmung entgegen, es nahm den Stress vielleicht nicht heraus, aber es machte ihn handhabbarer. Ich bin der festen Überzeugung, Atemmasken könnten in der aktuellen Pandemie über die Zeit Ähnliches leisten.
Wichtig war, das Kondom zu erklären und nicht zu befehlen, und das gelang im Zusammenspiel zwischen Betroffenen und staatlichen Stellen – über die Gründung der Aidshilfen zum Beispiel. „Ich benutze Kondome!“ empfahl ein deutlich als schwuler Mann seiner Zeit erkennbarer Schnurrbartträger auf dem ersten Plakat der Deutschen Aidshilfe 1986. Und einen offen schwulen Mann auf einem Plakat zu sehen, war dabei fast die umwerfendere Neuigkeit.
Dieses Plakat stand am Beginn von jahrzehntelanger Aufklärung und Prävention, die letztlich nicht nur epidemiologisch erfolgreich war – sie war es auch emanzipatorisch und im Sinne der Menschen- und Bürgerrechte der Betroffenen. Der Wert eines schwulen Lebens war damals ähnlich im Sinkflug wie das von Hochbetagten heute. In einer Epidemie die Menschenrechte nicht hinten anzustellen: auch das ist eine große Lehre der Aidskrise. In Deutschland gelang es am Ende, die Infektionszahlen vergleichsweise niedrig zu halten, ohne Darkrooms zu schließen, ohne Internierungen – sondern allein durch die Einsicht und das Verantwortungsbewusstsein gut informierter Menschen.
Wo ist die Online-Kampagne für die Atemmaske?
Darum bin ich auch jetzt gegen Pflichten und Verbote. Wichtiger als die gesetzliche Maskenpflicht wäre gewesen, schon im Februar die Hochrisikogruppen mit an den Tisch zu holen, die Sache nicht allein unter Virolog*innen und Politiker*innen auszumachen. Auch jetzt fehlt eine Strategie, wie der Nase-Mund-Schutz in der Bevölkerung akzeptabel gemacht wird. Wo sind die Plakate, wo ist die Online-Kampagne? „Tina, was kosten die Kondome?“ Den Satz kennt in Deutschland jede*r über 40. Heute muss es in den Agenturen unter Kreativen doch von witzigen Ideen wimmeln, wie sich eine Maske vermarkten lässt.
An diesem Punkt also könnte „die Maske dem Covid sein Pariser“ werden: Einen Wandel im Denken zu erreichen, in dessen Verlauf der Staat gemeinsam mit Expert*innen und Betroffenen, d.h. vor allem den Organisationen der Hauptrisikogruppen, die Gesellschaft durch Aufklärung in die Lage versetzt, selbstverantwortlich zu handeln. Dazu gehört selbstverständlich auch, jene nicht zu stigmatisieren, die aus persönlichen Gründen auf den Schutz verzichten (müssen) oder die durch den Gebrauch von Masken in Schwierigkeiten geraten, wie Gehörlose. All das müssten und könnten Kampagnen mitdenken.
Zwischen den Verboten und Grundrechtseinschränkungen eines autoritären Staats und dem „Freies Anstecken für freie Bürger“ der Aluhutfraktion ist Selbstverantwortung und das Setzen auf Freiwilligkeit der beste Weg. In der Aidskrise hat er funktioniert. Er würde wieder funktionieren. Ich will jedenfalls lieber in einem Land leben, in dem das Tragen einer Atemmaske als Symbol für Gemeinsinn und Rücksichtnahme verstanden wird, denn als Symbol für staatliche Repression oder Angst und Schwäche.
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