Roman „Sonne in Scherben“

Interview mit Jayrôme C. Robinet: „Wer darf Kinder in die Welt setzen, wer nicht?“

23. Okt. 2024 Kevin Clarke, Magnus-Phinix Vollmar
Bild: Ali Ghandtschi
Jayrôme Robinet schrieb auch „Mein Weg von einer weißen Frau zu einem jungen Mann mit Migrationshintergrund“.

Der in Berlin lebende Schriftsteller Jayrôme Robinet hat seinen zweiten Roman „Sonne in Scherben“ veröffentlicht. Darin erzählt er die Geschichte des trans Mannes Enzo, der schwanger und zusammen mit seiner Frau Angèle Opfer einer Hetze von Boulevardmedien wird. SIEGESSÄULE-Redakteure Magnus-Phinix Vollmar und Kevin Clarke sprachen mit dem Autor über sein neuestes Werk

In deinem ersten Buch spielt viel in der queeren Szene Berlins und stellen diese recht positiv dar. Warum hast du dich bei deinem zweiten Roman für einen komplett anderen Plot mit Frankreich-Setting und ein negatives Porträt der LGBTIQ*-Community entschieden? Dass man von Buch zu Buch eine andere Geschichte erzählt, scheint mir selbstverständlich als Schriftsteller. Es wäre sogar verwunderlich, wenn man sich immer wiederholen würde. (lacht) Das andere Buch war autofiktional. „Sonne in Scherben“ hatte ich schon davor begonnen, es aber auf Eis gelegt.

Warum? Weil die Situation – wir sprechen vom Jahr 2009 – eine andere war, was trans* Menschen betrifft. Ich wollte damals noch nicht solch eine tragische Geschichte in die Welt setzen, die trans* Menschen mit Drama, mit Unglück, mit Tod verknüpft. Das wollte ich mir erst dann erlauben, wenn eine differenziertere und vielfältigere Repräsentation von trans* Menschen im Literaturbetrieb vorhanden ist.

Wie war 2009 die Welt aus trans* Perspektive? Allein was die Gesetzgebung angeht, war es eine andere Welt, sowohl in Frankreich, wo meine Geschichte spielt, als auch in Deutschland. 2009 war eine Geschichte mit einer Figur wie Enzo, der rechtlich als Mann anerkannt ist und trotzdem ein Kind austrägt, in Deutschland nicht möglich. Denn: Um sein Geschlecht offiziell ändern zu dürfen, also den Geschlechtseintrag, hätte er sich sterilisieren lassen müssen. Das wurde 2011 revidiert, in Frankreich sogar erst 2016t! Ich hatte mich bei der Planung des Romans von Thomas Beatie inspirieren lassen. Er machte 2008 in den USA Schlagzeilen als erster schwangerer Mann. Damals, 2009, war Transsexualität auch in den Krankheitskatalogen der Weltgesundheitsorganisation noch als Krankheit eingestuft. Das änderte sich erst 2018. Medial gesehen gab es kaum Repräsentation für trans* Menschen.

Und du findest, die Gesellschaft ist jetzt bereit für ein so tragisches Buch wie „Sonne in Scherben“? Ja, genau. Auf jeden Fall ist die Repräsentation vielfältiger, nuancierter geworden, auch in unterschiedlichen Gattungen. Es gibt Romane, es gibt Kinder- und Jugendbücher, es gibt Lyrik, Spielfilme und Serien, wie zum Beispiel von Tucké Royale. Es ist ein breiteres Spektrum da. Es sind seit 2009 inzwischen 16 Jahre vergangen, und irgendwann muss ich mich als Autor davon befreien, wie’s damals war. Und mir die Frage stellen: Was will ich heute erzählen? Und nicht: Wozu ist die Gesellschaft bereit? Oder: Was wollen die Leser*innen lesen? Sondern: Was will ich für Geschichten erzählen?

„Was passiert, wenn ein Mensch so hetzerisch in den Medien präsentiert wird, wenn die Wahrheit verzerrt wird, wenn sein Ruf ruiniert ist, wenn sein Leben kaputt gemacht wird?“

Das habe ich mich auch gefragt: Für wen ist das Buch geschrieben? Für meine Katze. (lacht)

Deine Katze? Sie schaut mich immerzu an, als würde sie sagen: „Schreib endlich, schreib die ganze Zeit. Und lass mich in Ruhe.“ (lacht) Ich weiß nicht, ob ich für eine bestimmte Zielgruppe schreibe, sondern ich schreibe zuerst aus dem Bedürfnis heraus, eine Geschichte zu erzählen. Mir ging es allerdings nicht so sehr um Schwangerschaft oder die Schwangerschaft eines trans Mannes, sondern um die Macht der Medien bzw. der Boulevardblätter. Mein Vorbild, unabhängig von Thomas Beatie und seiner Geschichte, war „Die verlorenere Ehre der Katharina Blum“. Was passiert, wenn ein Mensch so hetzerisch in den Medien präsentiert wird, wenn die Wahrheit verzerrt wird, wenn sein Ruf ruiniert ist, wenn sein Leben kaputt gemacht wird? Ich habe versucht, mit dieser Frage im Hinterkopf zu schreiben.

Würdest du dein Buch als eine Mediensatire sehen?
Nein, es ist eine Kritik, weniger eine Satire.

Die Frage nach der Satire stellte sich für mich, weil Enzo und Angèle als Paar, sich eine extrem spießige, heteronormative Welt aufgebaut haben. Und dann bricht alles auseinander. Es stimmt, dass im Roman eine Fallhöhe vorhanden ist. In dem Fall zwar nicht aus dem Spießertum heraus in den Abgrund, sondern aus dem Glück. Das Glück musste am Anfang die Liebe sein, und die wiederum musste umso größer sein, damit dieses Zerstörtwerden und die darauffolgende Verzweiflung noch krasser ausfallen. Dass Enzo und Angèle spießig sind: Ich glaube, vielleicht bin ich auch ein bisschen spießig. Vielleicht auch nicht. (lacht) Wenn ich Figuren entwickle, stelle ich mir die Frage: Wie soll das Umfeld sein, damit die Geschichte funktioniert? Die Story reicht zurück bis in die Nullerjahre in Frankreich, da gab es keine große queere Community in Kleinstädten. Das heißt, es wäre unrealistisch gewesen, so eine aus der Luft zu greifen.

Dann gibt’s noch die Geschichte einer trans Freundin, die aus Boshaftigkeit und um auf ihrem YouTube-Channel mehr Follower*innen zu kriegen, Enzo und Angèle verrät. Sie tut das aus meiner Sicht nicht aus Boshaftigkeit, sondern aus Verzweiflung. Sie selbst ist so traurig darüber, dass sie kein Kind bekommen kann, weil die Gesetzgebung so ist, wie sie eben ist … Und damit das Ende nachvollziehbar ist, warum Angèle zu ihrer Tat getrieben wird (die ich hier nicht spoilern will), musste sie schon sehr alleine sein.

Lässt sich diese negative Zeichnung der queeren Welt, die du für Frankreich entwirfst, auf Berlin übertragen? Das ist eine andere Szene, und es ist vor allem eine andere Zeit. Ich lebe seit 2000 in Berlin, und es hat sich viel verändert. Auch sprachlich. Damals wurde nicht gegendert, FLINTA* war kein Begriff, von Nicht-Binarität sprach niemand. Die Gesetzgebung war, wie gesagt, eine andere … Diese Gesellschaft war eine andere in den Nullerjahren. Sowohl in Frankreich als auch hier.

„Wer darf Kinder in die Welt setzen, wer nicht? Welche Körper können ein Kind austragen, welche nicht?“

Trotzdem verkauft dein Verlag das Buch als einen „aufregend, zeitgemäßen Familienroman“. Aber eigentlich ist es eine Zeitreise in die Vergangenheit. Ist solch ein Rückblick „zeitgemäß“? Ja, weil das Thema auch die Schwangerschaft ist, beziehungsweise die Möglichkeit, dass trans* Menschen Elternschaft genießen können. Das ist immer noch aktuell. Ebenso die Wege, die dahinführen. Im Roman gibt es eine Szene in der Nationalversammlung in Frankreich. Dort wird ein Bioethikgesetz diskutiert, das 2021 tatsächlich verabschiedet wurde. Darin wird beschlossen, dass trans Männer keinen Zugang zur künstlichen Befruchtung haben dürfen. Der Roman stellt die Frage von Elternschaft und von Mutterschaft: Wer darf Kinder in die Welt setzen, wer nicht? Welche Körper können ein Kind austragen, welche nicht? In Deutschland ist es immer noch so, dass trans* Eltern nicht mit ihrem Geschlecht in das Geburtsregister eingetragen werden.

In Frankreich ist das anders? Nein, in Frankreich wurde explizit im Gesetz gesagt: „Trans Männer dürfen keine künstliche Befruchtung in Anspruch nehmen.“ Es ging um „die künstliche Befruchtung für alle“, so ein bisschen wie „die Ehe für alle“. Aber unter „alle“ waren ledige Frauen gemeint, die das bis dahin nicht durften, und lesbische Paare. Das heißt, die Geschichte spielt zwar ab Anfang der Nullerjahre, aber die rechtlichen Lücken, die immer noch existieren, sind hochaktuell.

Du hast gesagt, dass dein Roman auch eine Medienkritik ist. Wie siehst du die (queere) Medienlandschaft in Deutschland? Es geht mir vor allem um eine Kritik der Boulevardpresse. Da habe ich mich tatsächlich eher von Deutschland inspirieren lassen, das mit Blättern wie der Bild-Zeitung viel krasser ist, viel polarisierender, politischer und eine größere Rolle bei der öffentlichen Meinungsbildung spielt . In Frankreich gibt es keine vergleichbaren Zeitungen. Das heißt, obwohl die Geschichte in Frankreich spielt, ist es eine Abrechnung mit der deutschen und angelsächsischen Presse. Die queere Presse in Deutschland ist vielfältiger als in Frankreich. Ich habe den Eindruck, es ist hier möglich, unterschiedliche queere Standpunkte zu haben, die koexistieren.

„Bei ,Sonne in Scherben' habe ich versucht, zudem den queeren Blick zu vergessen. Denn der kann auch sehr normativ sein, kann Ansprüche haben, die einer Zensur gleichkommen.“

Hattest du Angst, dass Leute, die gar nichts mit Transidentität zu tun haben und so ein Buch lesen, jetzt sagen „Ist doch klar, dass bei einem trans Mann, der ein Kind kriegt, das Kind stirbt“? Ich kann nicht beeinflussen, wie Bücher rezipiert werden. Es kann sein, dass solche Menschen das Buch sowieso nicht lesen. Aber wenn Sie es lesen, habe ich die Hoffnung, dass sie berührt werden und etwas mitnehmen und dadurch eventuell ihre Meinung ändern, falls sie mit einer negativen Meinung ans Buch herangetreten sind. Bei „Sonne in Scherben“ habe ich versucht, zudem den queeren Blick zu vergessen. Denn der kann auch sehr normativ sein, kann Ansprüche haben, die einer Zensur gleichkommen. Bei mir habe ich jedenfalls festgestellt, dass es eine innere Zensur gab. Die wollte ich überwinden. Ich denke an Torrey Peters, die das Buch „Detransition, Baby“ geschrieben hat. Es geht auch um Kinderwunsch, Mutterschaft und eine Person, die eine Transition gemacht hat und diese rückgängig macht. Das Buch ist umstritten, sowohl in queeren als auch in nicht-queeren Kreisen. Die Autorin hat mir damit gezeigt: „Lass dich nicht von diesen Stimmen beeinflussen. Bestimmte queere Menschen werden unzufrieden sein mit deiner Geschichte. Sie werden dich kritisieren. Schreib trotzdem, was du schreiben möchtest.“ Und das habe ich mit „Sonne in Scherben“ getan.

Bild: Hanser Berlin Verlag
„Sonne in Scherben" erhältlich im Hanser Verlag.

Jayrôme C. Robinet: „Sonne in Scherben“
Hanser Verlag
256 Seiten, 24 Euro
hanser-literaturverlage.de

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