Intersexualität: Was bedeutet intersexuell, intergeschlechtlich, inter*?
In unserem SIEGESSÄULE-Glossar erklären wir oft verwendete Schlagworte aus der queeren Welt. An dieser Stelle geht es um die Begriffe inter*, intergeschlechtlich und intersexuell
Was bedeutet inter* oder intergeschlechtlich?
Inter* oder intergeschlechtlich sind Menschen, die mit Variationen der Geschlechtsmerkmale geboren wurden. Das heißt: ihre Körper entsprechen nicht der medizinischen bzw. gesellschaftlichen Norm von „eindeutig männlichen“ oder „eindeutig weiblichen“ Körpern.
Variationen kann es bei verschiedenen Geschlechtsmerkmalen geben, z. B. den Genitalien, Chromosomen, Hormonen oder den „Keimdrüsen“ (Hoden oder Eierstöcke). Bei manchen Menschen wird eine Variation direkt nach der Geburt oder in der Kindheit festgestellt, bei anderen erst in der Pubertät oder noch später im Leben.
Inter* ist ein Begriff, den viele für sich selbst verwenden. Das Sternchen am Ende weist darauf hin, dass es nicht nur eine, sondern viele verschiedene Formen von inter*-Sein gibt. Auch das Wort intergeschlechtlich wird von inter* Personen verwendet.
Es gibt mehr als nur zwei Geschlechter
Inter*Aktivist*innen kämpfen bereits seit Jahrzehnten gegen das so genannte binäre Geschlechterbild: das heißt gegen die Idee, dass es nur zwei menschliche Geschlechter gibt. Binär heißt so viel wie Zweiteilung. Diese Idee ist falsch: es gibt nicht nur zwei Geschlechter sondern eine geschlechtliche Vielfalt, und inter* Personen sind ein Teil davon.
Neben inter* gibt es noch andere Selbstbezeichnungen, die Personen für sich verwenden, die weder „eindeutig männlich“ noch „eindeutig weiblich“ sind. Zum Beispiel: nicht binär, genderfluid oder bigender. Diese Begriffe haben aber jeweils eine etwas andere Bedeutung als inter*. Sie beziehen sich meist mehr auf die Geschlechtsidentität als auf körperliche Merkmale.
Intersexuell wird als Begriff abgelehnt
In Medien liest man oft die Bezeichnung intersexuell. Dies ist ungenau und irreführend: bei inter* geht es nämlich gar nicht um Sexualität, sondern um Geschlechtlichkeit. Der Begriff Intersexualität wird von inter* Aktivist*innen deshalb abgelehnt. Auch Begriffe wie Zwitter oder Hermaphrodit für inter* Personen sind klar diskriminierend und sollten nicht verwendet werden.
Das englische intersex hat nochmal eine andere Bedeutung als das deutsche Wort intersexuell. Sex im englischen kann man sowohl mit Sexualität, als auch mit Geschlecht übersetzen.
Inter* ist keine Krankheit
In der Medizin ist in Bezug auf inter* Personen manchmal noch von einer „Störung der Geschlechtsentwicklung“ (englisch: Disorders of Sexual Development) die Rede. Das ist falsch und pathologisierend, denn inter* ist keine Krankheit oder Störung, sondern einfach eine Erscheinungsform geschlechtlicher Vielfalt.
Pathologisierend heißt, wenn etwas als krankhaft verstanden wird, es sich aber eigentlich gar nicht um eine Krankheit handelt. Pathologisierende Definitionen tragen dazu bei, dass inter* Personen mit Vorurteilen und Stigma zu kämpfen haben.
Auch die Gesetzgebung zu inter* geht oft noch von falschen Vorstellungen aus und ist diskriminierend. Ein großes Problem stellt dar, dass die Politik immer wieder versucht, in Gesetzestexten vorzuschreiben, was inter* bedeutet. Die gesetzlichen Definitionen sind aber oft zu eng gefasst und schließen viele inter* Personen aus, die nicht in den engen Rahmen passen. Beispiele dafür sind der Entwurf für ein OP-Verbot oder die Regelung zur „Dritten Option“.
26. Oktober: Intersex Awareness Day
Am 26.10. ist der Welttag intergeschlechtlicher Menschen oder auch Intersex Awareness Day. Letztes Jahr gab es in Berlin an dem Datum eine Kundgebung: gefordert wurde u. a. ein Totalverbot von Operationen an inter* Kindern und Jugendlichen.
Verbot von Operationen an inter* Kindern
Inter* Säuglinge und Kinder werden oft noch an den Genitalien operiert, um diese einer „männlichen“ oder „weiblichen“ Norm anzugleichen. Das Schlimme daran: diese OPs sind medizinisch nicht notwendig, sie haben aber oft lebenslange negative Folgen für die Betroffenen. Laut einer Studie der Universität Bochum betraf dies im Zeitraum von 2005 bis 2016 und im Durchschnitt um die 1800 inter* Kinder jährlich (gezählt wurden nur Kinder unter zehn Jahren).
Am 25. März 2021 verabschiedete der Bundestag das Gesetz „zum Schutz von Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung“. Der Gesetzestext ist aber so formuliert, dass einige medizinische Diagnosen, die in den Kontext inter* fallen, nicht beachtet werden. Die Folge ist, dass viele inter* Kinder durch das neue Gesetz immer noch nicht geschützt sind.
Dadurch werden die Grundrechte dieser Kinder auf körperliche Unversehrtheit und auf geschlechtliche Selbstbestimmung missachtet. Inter* Aktivist*innen kritisieren dies als eine Menschenrechtsverletzung. Der Lesben- und Schwulenverband (LSVD) und andere queere Organisationen bemängeln außerdem, dass das Gesetz keine Maßnahmen vorsieht, um eine Umgehung des Verbots zu verhindern oder eine effektive Strafverfolgung zu ermöglichen.
U. a. der deutsche Ableger von Intersex International (OII Germany) fordern darüber hinaus auch, Betroffene zu entschädigen, zum Beispiel durch einen Hilfsfonds.
Neuer Geschlechtseintrag „divers“
Bis vor ein paar Jahren gab es im deutschen Personenstandsregister nur zwei Optionen für den Geschlechtseintrag einer Person: „männlich“ oder „weiblich“. 2017 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass dies gegen Grundrechte verstoße. Personen, die weder männlich noch weiblich sind, müssten eine Möglichkeit haben, dies in ihrem Geschlechtseintrag auszudrücken. Vor dem Gericht geklagt hatte die inter* Person Vanja.
Mit Jahresbeginn 2019 wurde dann von der Bundesregierung der neue Geschlechtseintrag „divers“ eingeführt, um die Vorgaben des Verfassungsgerichts umzusetzen. Allerdings kann die neue Option „divers“ nur von Personen genutzt werden, die mittels eines ärztlichen Attestes nachweisen können, dass bei ihnen eine so genannte Variante der Geschlechtsentwicklung vorliegt. Was das bedeutet, ist umstritten. Oft werden dazu nur Diagnosen gezählt, bei denen die Chromosomen, die Keimdrüsen oder die Genitalien keine „eindeutige Zuordnung zu männlich oder weiblich“ zulassen. Inter* oder auch nicht binäre Personen, die diese engen medizinischen Kriterien nicht erfüllen, bleiben von der neuen Regelung dann ausgeschlossen.
Von LGBTI*-Aktivist*innen als auch von Politiker*innen ist das Gesetz scharf kritisiert worden, weil es unklar formuliert und ausschließend ist. Gefordert wird, dass die Bezeichnung „divers“ allen offen steht – ohne Einschränkungen oder medizinische Gutachtenpflicht. Bündnis 90/ Die Grünen und die FDP brachten 2020 entsprechende Gesetzesentwürfe in den Bundestag ein. Diese sehen vor, dass nicht binäre, inter* und trans* Personen in Zukunft ihren Vornamen und ihren Geschlechtseintrag durch einen einfachen Verwaltungsakt ändern lassen können – allein auf Grundlage ihrer Selbstauskunft. Trans* und inter* Organisationen fordern ein solches vereinfachtes Verfahren seit langem, weil damit das Recht auf Selbstbestimmung umgesetzt wird.
Zahlen zum neuen Geschlechtseintrag: Im Jahr 2019 gab es laut Angaben des Bundesinnenministeriums 1036 Vornamen- und Personenstandsänderungen nach dem neuen Personenstandsgesetz (PStG § 45b). Vom 1.1. bis zum 30.9.2020 waren es 549 Änderungen.
Wie fühlt es sich an, inter* zu sein? Interview mit Robi Lüdtke
Robi Lüdtke erfuhr erst spät im Leben, dass er* inter* ist. Im Anschluss an sein* Coming-Out in 2019 unterhielt sich SIEGESSÄULE mit ihm*
Robi, du hast dich mit einem Facebook-Post in 2019 als inter* geoutet. Darin schreibst du, dass du es selbst erst kurz zuvor erfahren hattest. Wie ist das passiert? Ich habe seit meiner Kindheit gespürt, dass ich eine „andere“ Körperlichkeit habe. Ich wurde mit Variationen der Geschlechtsmerkmale und einem Körper geboren, der nicht den typischen Normen von Mann oder Frau entspricht. Ich hatte immer ein ungutes Körpergefühl und konnte es mir nicht erklären. Ich habe versucht es zu verdrängen, aber mein Unterbewusstsein sprach mit der Zeit immer mehr zu mir, bis ich von Zwangsoperationen an intergeschlechtlichen Kindern hörte. Ich las intensiv darüber, habe Dokus gesehen, sprach mit Freund*innen und ich merkte: hey shit, das habe ich auch erlebt und das bin ich auch! Und so begab ich mich auf eine Reise in die Vergangenheit. Ich habe viel mit meiner Familie gesprochen, an was sie sich erinnern, und entdeckte dann circa 3 Monate vor meinem Outing Dokumente in meinem Elternhaus, die in meinem Fall „maskulinisierende“ Operationen im Kindesalter belegen. Das heißt, ich wurde intergeschlechtlich geboren und im Kindesalter zum männlichen Geschlecht hin operiert, um einer gesellschaftlichen Idee zu entsprechen. Ich konnte es erst gar nicht fassen und fühlte mich ohnmächtig. Sobald ich die Unterlagen hatte, kamen aber auch wieder Erinnerungen hoch: Mir fiel zum Beispiel ein, wie einer der Chefärzte nach der letzten Operation sagte: „Fühlst du dich jetzt als ein Mann?“
„Ich hatte immer ein ungutes Körpergefühl und konnte es mir nicht erklären. Ich habe versucht es zu verdrängen, aber mein Unterbewusstsein sprach mit der Zeit immer mehr zu mir, bis ich von Zwangsoperationen an intergeschlechtlichen Kindern hörte.“
Unter anderem als ehemaliger Mitarbeiter* von manCheck warst du schon viel in schwulen, sexpositiven Zusammenhängen unterwegs. Welche Reaktionen hast du, gerade in der schwulen Szene, auf dein Coming-Out bekommen? Meine manCheck-Kollegen* waren sehr solidarisch mit mir und ich bin ihnen für das Vertrauen, die vielen Gesprächen und den Rückhalt sehr dankbar! Ich integriere meine Intergeschlechtlichkeit in meine Sexualität, meine Identität und mein aktuelles Leben: momentan fühle ich mich daher ganz persönlich erstmal als ein inter*-schwuler-queerer Mann*. Aus der schwulen Community gab es viele positive Reaktionen, die mich stärken. Dennoch bemerke ich bei einigen Leuten eine leichte Verunsicherung, sobald ich über inter* spreche, da sie noch nie eine inter* Person kennenlernten. Wenn ich sage, dass ich inter* bin, wird schonmal das Gesprächsthema gewechselt.
Wie hat sich dein Leben seit der Erkenntnis, inter* zu sein, verändert? Seitdem ich mehr über meine Inter*-Körperlichkeit weiß, fühle ich mich befreit und es tut mir gut, zu wissen, wie ich geboren wurde. Das bedeutet natürlich auch, diesen Schmerz der geschlechtsverändernden Eingriffe anzunehmen und zu verarbeiten. Aber ich freue mich auf mein weiteres Leben als inter*.
„Es gibt keinen ,richtigen' oder ,falschen' inter*“
Welchen gängigen Mythos über Inter*sein würdest du gerne endgültig abschaffen? Es kursieren viele stereotype Vorstellungen vom phänotypischen Erscheinungsbild von intergeschlechtlichen Menschen. Aber es gibt keinen „richtigen“ oder „falschen“ inter*. Die Schwelle zu Intergeschlechtlichkeit ist überschritten, sobald ein Merkmal von vielen (chromosomal, genital, körperlich, hormonell u.a.) aus der Zweigeschlechterordnung herausfällt. Ich persönlich habe zum Beispiel gerade ein recht männliches passing als inter* Person. Aber ich liebe es, mir täglich die Fingernägel zu lackieren, mal ein Kleid anzuziehen und bewusst den Diskurs der binären Geschlechternormen zu brechen. Außerdem fordere ich ganz klar einen sofortiges Verbot der uneingewilligten geschlechtsverändernden Eingriffe an intergeschlechtlichen Kindern und Jugendlichen in Deutschland und weltweit! Intergeschlechtlichkeit ist kein „medizinisches Problem“ oder eine „Fehlbildung“, so wie es in der Diagnostik ausschließlich pathologisiert wird, sondern inter* ist ein menschenwürdiger Lebensentwurf und ein Teil von geschlechtlicher Vielfalt.
Interview: Hannah Geiger
Gruppen und Anlaufstellen in Berlin
TransInterQueer (TrIQ) e. V.
Veranstaltungen, Gruppen-, Beratungs- und Fortbildungsangebote. Trans* und inter* Archiv
transinterqueer.org
Gladt e. V.
Selbstorganisation von Schwarzen, Indigenen und of Color Lesben, Schwulen, Bisexuellen, trans*, inter* und queeren Personen in Berlin. Psychosoziale Beratung und Begegnungsstätte
gladt.de
Queer Leben
Inter* und trans* Beratungsstelle
queer-leben.de
Lesbenberatung Berlin
Beratungsstelle für Frauen, Mädchen, trans*, inter* und queere Personen
lesbenberatung-berlin.de
Casa Kuá
Gesundheitszentrum für trans*, inter* und queere Personen
casa-kua.com
ViRo Praxis
Auf trans* Medizin und Belange von LGBTI*-Patient*innen spezialisierte Praxis für Allgemeinmedizin
viropraxis.de
Bundesweite Gruppen und Anlaufstellen
Organisation Intersex International (OII Germany)
Die deutsche Vertretung der Internationalen Vereinigung Intergeschlechtlicher Menschen (IVIM). Berliner, bundesweite und internationale Aktionen. Beratungsangebote, Netzwerktreffen.
Deutsche Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität e.V.
Beratung, Fortbildung und Selbsthilfegruppen
Bundesverband Intersexuelle Menschen e.V.
Selbshilfegruppen, Beratung, Peerberatung
Dritte Option - Für einen dritten Geschlechtseintrag
Kampagnengruppe für einen selbstbestimmten dritten Geschlechtseintrag
Informationsseite zum neuen Personenstandsgesetz §45b
Von Julia Monro betriebene Infoseite zum Personenstandsgesetz und der Dritten Option, inklusive Sammlung aktueller Gerichtsurteile
Transintersektionalität
Netzwerk mit intersektionalem bundesweitem Beratungsangebot, z. B. zur Verschränkung von Inter*feindlichkeit und Rassismus
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