Aufarbeitung der Kolonialgeschichte in Berlin

Homophobie als koloniales Erbe

7. Feb. 2025 Selina Hellfritsch und Lara Hansen
Bild: Maclaine Black
Abdul-wadud Mohammed ist queerer Aktivist und stellvertretender Direktor von LGBT+ Rights Ghana.

Queere Menschen in Ghana kämpfen seit Jahren gegen Anti-LGBTIQ*-Gesetze, die ihre Wurzeln im Kolonialismus haben. Der Aktivist Abdul-wadud Mohammed erklärt, warum der Kampf um Autonomie sowie Entwicklungshilfe dekolonial sein muss. Literaturwissenschaftler Ibou Diop plädiert in Berlin für eine Aufarbeitung der Kolonialgeschichte, die nicht isoliert, sondern im Zusammenhang mit anderen Unrechtssystemen gedacht wird

Es ist genau vier Jahre her, dass queere Menschen in Ghanas Hauptstadt Accra ein Community-Zentrum eröffneten. Darauf folgte eine beispiellose Welle von Anti-LGBTIQ*-Hetze: Das Gebäude wurde zwangsgeräumt und im Februar 2021 verabschiedete das Parlament einen Gesetzesentwurf mit härteren Strafen gegen LGBTIQ* und ihre Allies. Nach dem bisherigen Strafgesetzbuch wird homosexueller Sex in Ghana als „Unzucht“ mit bis zu drei Jahren Gefängnisstrafe verurteilt.

Was viele nicht wissen: Das Gesetz, das in über 30 Ländern südlich der Sahara gilt, ist ein Relikt des britischen Kolonialismus. Denn Gender-Fluidität und Queerness gehen weit in die vorkoloniale Geschichte des Landes zurück. Die Dagaaba ordneten das Geschlecht etwa nicht nach Anatomie zu, sondern nach der Energie, die man ausstrahlt. Die Fante glaubten wiederum, dass sich Menschen mit einer „schweren Seele“ zu Frauen und diejenigen mit einer „leichten Seele“ zu Männern hingezogen fühlten. Den Beweisen zum Trotz verteidigen afrikanische Politiker antiqueere Gesetze dennoch als Teil der Dekolonisierung und propagieren Homosexualität als westliche Bedrohung.

Bild: LGBT+ Rights Ghana
Abdul-wadud Mohammed auf einer Veranstaltung von LGBT+ Rights Ghana

Dagegen stellen sich Aktivist*innen wie Abdul-wadud Mohammed. Er ist stellvertretender Geschäftsführer von LGBT+ Rights Ghana – 2018 hat er die Organisation mit sechs Mitstreiter*innen gegründet. Was als Facebook-Gruppe startete, platzte schnell aus allen Nähten. Mit finanzieller Unterstützung vom Schwedischen Verband für Sexualaufklärung (RFSU) konnten sie 2020 ein queeres Community-Zentrum als Rückzugsort errichten. Ein Instagram-Post dazu löste landesweit Entsetzen aus. „Alle haben über uns geredet. Es wurde gefährlich“, erklärt Mohammed gegenüber SIEGESSÄULE.

Aus der Not heraus fand das Team durch das EU-Programm „Protect Defenders“ drei Monate Zuflucht in Berlin. Dort besuchten sie Organisationen, die von weißen schwulen Männern geführt wurden – diese waren modern ausgestattet. Andererseits trafen sie auch queere BiPoC Initiativen, die wiederum nur wenige Ressourcen zur Verfügung hatten. „Das hat uns gezeigt, wie die Regierung priorisiert.“

Erinnerungskonzept Kolonialismus

Was Mohammed erzählt, ist das Spiegelbild einer Stadt, deren postkoloniale Erinnerungskultur lückenhaft ist. „Kolonialgeschichte sollte weltweit und in Deutschland dezentral gedacht werden. Berlin spielt dabei aber eine besondere Rolle“, so Ibou Diop, Literaturwissenschaftler und Kurator im Gespräch mit SIEGESSÄULE. Denn hier wurde der Grundstein für die koloniale Ausbeutung und Aufteilung Afrikas gelegt. Auf Einladung von Otto von Bismarck fand vor 140 Jahren im Reichskanzlerpalais in der Wilhelmstraße die Berliner Konferenz (auch Kongo-Konferenz) statt. Dort verhandelten die europäischen Kolonialmächte vor einer meterhohen Afrika-Karte – afrikanische Vertreter*innen wurden nicht eingeladen.

Um die Folgen des Kolonialismus in Berlin aufzuarbeiten, hat das Abgeordnetenhaus 2019 beschlossen, ein Erinnerungskonzept umzusetzen. Drei Jahre später bekam Diop den Auftrag, ein „Erinnerungskonzept Kolonialismus“ für den Kulturbereich zu erarbeiten. „Es gab bereits viele Initiativen, deren Perspektive und geleistete Arbeit sichtbar gemacht werden mussten. Meine Aufgabe war es, diese Stimmen zu bündeln und politisch zu präsentieren.“

Bild: Yero Edugna Eticha
Ibou Diop, Literaturwissenschaftler und Kurator, erarbeitet für den Berliner Senat gerade ein „Erinnerungskonzept Kultur”

Im April 2024 wurde das Konzept im Haus der Kulturen vorgestellt und wird nun im März dieses Jahres an das Abgeordnetenhaus übergeben. Darin wurde auch die Sicht der Länder berücksichtigt, mit denen Deutschland eine Beziehungsgeschichte hat. Diop bevorzugt diese Bezeichnung, anstatt sie als ehemals kolonisierte Länder zu beschreiben, denn spreche man von einer Beziehungsgeschichte zwischen Deutschland und Namibia, Tansania, Ruanda, Burundi, Kamerun, Togo, Papua-Neuguinea, Samoa und China, werde die Beziehung von Unterdrückung, Vernichtung und Nichtanerkennung gleichwertiger Identitäten sichtbarer.

Laut dem Eckpunktepapier soll es außerdem einen Lern- und Erinnerungsort Kolonialismus geben. „Wichtig ist die Markierung und Umbenennung kolonial belasteter Orte“, erklärt Diop. „Das Konzept verbindet Architektur, Stadtplanung und Bildung und strebt eine tiefgreifende Aufarbeitung an.“ Das sei wichtig, denn bisher wurde Kolonialgeschichte nur mit Blick auf die betroffenen Länder gesehen. Aber die Auswirkungen sind heute auch deutlich in Deutschland zu erkennen: BiPoC werden ausgegrenzt, rassistisch angegriffen und nicht als Teil deutscher Geschichte anerkannt.

„Kolonialgeschichte sollte nicht isoliert betrachtet werden, sondern in Verbindung mit anderen Unrechts systemen wie dem Nationalsozialismus, Queerfeindlichkeit und der Diskriminierung von BiPoC.“

Politisch gebe es erste Auseinandersetzungen, aber es mangelt an Handlungen und finanzieller Unterstützung. Ein Beispiel dafür ist der Koalitionsvertrag der Bundesregierung, in dem auch ein Lern- und Erinnerungsort versprochen wurde. Auf Bundesebene ist nichts dergleichen passiert, die Legislaturperiode ist bald vorbei, und ob sich die kommende Regierung dem Thema widmen wird, ist fraglich. „Kolonialgeschichte sollte nicht isoliert betrachtet werden, sondern in Verbindung mit anderen Unrechts systemen wie dem Nationalsozialismus, Queerfeindlichkeit und der Diskriminierung von BiPoC.“

Bild: Hirschfeld-Eddy-Stiftung/Claudia Reinhardt
Am 24. Oktober fand die Konferenz „Kulturen und Kolonialismus“ von der Hirschfeld-Eddy-Stiftung in Zusammenarbeit mit dem LSVD in Berlin statt

Dekoloniale Entwicklungshilfe

Auf internationaler Ebene hat sich Deutschland dazu verpflichtet, 0,7 Prozent seines Bruttonationaleinkommens in Entwicklungshilfe zu investieren. Damit gehen auch Verantwortung und Macht einher. Um queere Rechte zu schützen, hat die Bundesregierung 2021 für die auswärtige Politik ein LSBTI-Inklusionskonzept verabschiedet. Hinter diesem Beschluss steckt jahrelange Lobbyarbeit, für die sich unter anderem die Berliner Hirschfeld-Eddy-Stiftung und der LSVD eingesetzt haben. „Es sind zum großen Teil unsere Forderungen, die jetzt im LSBTI-Inklusionskonzept stehen“, sagt die Projektleiterin Sarah Kohrt. Im vergangenen Jahr hat die Stiftung unter dem Titel „Kulturen und Kolonialismus“ die Aufarbeitung der deutschen und europäischen Kolonialgeschichte mit Blick auf queere Kolonialerfahrungen thematisiert. „Das Projekt wurde in enger Zusammenarbeit mit Partner*innen im Globalen Süden umgesetzt. Ziel war es, deren Stimmen zu verstärken und ihre Anliegen direkt an die Bundesregierung heranzutragen“, so Kohrt. Auch bietet die Stiftung aktivistischen Forderungen eine Plattform, indem sie Essays und wissenschaftliche Arbeiten veröffentlicht. So auch Mohammed, der einen Artikel zu antikolonialem Aktivismus und Entwicklungshilfe veröffentlichte.

„Wir wurden zu Pionieren. Wir haben Queerness in Ghana sichtbarer gemacht denn je.“

Sein Team konnte im November 2021 von Berlin nach Ghana zurückkehren und sich als LGBT+ Rights Ghana weiter organisieren. „Wir wurden zu Pionieren. Wir haben Queerness in Ghana sichtbarer gemacht denn je“, so Mohammed. In Anbetracht der zunehmend bedrohlichen Gesetzeslage überdachten sie ihre Strategie jedoch. „Viele wollten uns unsere ghanaische Identität absprechen.“ Queerness sei eine vom Westen importierte Lebensweise, hieß es seitens Politik und Medien. Um gegen diese Propaganda anzugehen, gestalteten sie ihren Aktivismus kultursensibler. Der anglo- und eurozentrische Sprachgebrauch rund um Queerness sei für Ghanaer*innen befremdlich. Stattdessen begannen die Aktivist*innen Programme und Botschaften in lokalen Sprachen zu verbreiten sowie Gespräche mit homophoben Journalist*innen, Eltern queerer Kinder und Geistlichen zu suchen. „Wir sehen seither immer mehr Coming-outs und Solidaritätsbekundungen in den sozialen Medien.“ Auch die Frauenrechts- und Jugendbewegung habe sich mit den Queers verbündet.

Bild: Maclaine Black
Aktivist Abdul-wadud Mohammed von LGBT+ Rights Ghana

Kolonialgeschichte als Teil der Erinnerungskultur

Der Weg zur Akzeptanz sei aber strikt dekolonial – und das müsse auch die internationale Entwicklungshilfe beachten. Die Zusammenarbeit zwischen LGBT+ Rights Ghana und der schwedischen RFSU sei so erfolgreich, weil sie flexibel mit der Finanzierung geblieben sei. „Sie fragten uns, was funktionieren würde, und nicht andersrum“, sagt Mohammed. In Deutschland hingegen sei die Zusammenarbeit mit der Deutschen Aidshilfe an bürokratischen Hürden gescheitert.

„Ausländische Hilfe sollte westliche Werte nicht aufzwingen, sondern solidarisch mit marginalisierten Gemeinschaften sein.”

„Ausländische Hilfe sollte westliche Werte nicht aufzwingen, sondern solidarisch mit marginalisierten Gemeinschaften sein”, so der Aktivist. „Wir sind nicht bereit, uns zu beugen”, sagt er, was sowohl für Gespräche mit ausländischen Geldgebern gelte als auch für die Regierung in Ghana. Der queerfeindliche Gesetzesentwurf von 2021, der das bisherige Strafgesetz verschärfen sollte, wurde vom Ex-Präsidenten Nana Akufo-Addo nie abgezeichnet. Dank Lobby-Anstrengungen von queeren Aktivist*innen verzögert sich dieser Prozess seit Jahren. Unklar ist, wie sich die neue Regierung unter dem nicht weniger queerfeindlichen Präsidenten John Dramani Mahama verhalten wird. „Selbst, wenn ein neues Anti-LGBT-Gesetz kommen sollte, haben wir mittlerweile ein landesweites Netzwerk von Verbündeten, auf das wir zurückgreifen können”, sagt Mohammed stolz.

Ein Blick nach Berlin lässt Zweifel an der Lernbereitschaft der Staatsinstitutionen aufkommen. Es fehle eine emanzipierte Erzählung, die Europa für die afrikanische Diaspora zu einem sicheren Raum mache, appelliert Diop. Das Gemeinschaftsprojekt „Dekoloniale Erinnerungskultur“, an dem Diop beteiligt ist, und Decolonize Berlin e.V.haben es geschafft, einen Projektraum in der symbolträchtigen Wilhelmstraße zu eröffnen. Allerdings ist die Finanzierung ausgelaufen und der Vermieter hat den Mietvertrag gekündigt. Diop bringt es auf den Punkt: Wir stünden noch ganz am Anfang, wenn es darum geht, Kolonialgeschichte als Teil der deutschen Erinnerungskultur zu verankern.

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