Gesichter des Krieges: Diamanda Galás über ihr neues Album
Die Sängerin und Vokalartistin Diamanda Galás, Grande Dame der Avantgarde und Ikone des Aids-Aktivismus, meldet sich nach längerer Pause nun mit dem Multimediaprojekt „Broken Gargoyles“ zurück. Thema: Der Umgang mit Kranken und Verwundeten vor dem Ersten Weltkrieg und währenddessen (Triggerwarnung: Das Gespräch enthält diesbezüglich explizite Beschreibungen), beeinflusst von den Fotografien Ernst Friedrichs und den Gedichten Georg Heyms. SIEGESSÄULE traf die in San Diego lebende Künstlerin zum Interview
Frau Galás, was fasziniert Sie an Georg Heym, der im frühen 20. Jahrhundert – vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs – die Zustände in deutschen Armenhäusern und Hospitälern beschrieben hat? Das Irre an Heym ist, dass er schon in jungen Jahren – mit 19, 20 – eine große Gabe hatte: Er erkannte, dass sich ein Krieg anbahnte. In seinem Gedicht „Die Dämonen der Stadt“ bringt eine Frau ein Kind ohne Kopf zur Welt – und als die Wehen einsetzen, wird sie von Dämonen umringt, die sich über ihre Schmerzen amüsieren. Dann kommt es zur Explosion und die ganze Stadt wird in Rot getränkt. Das war die Zukunft von Deutschland – Heyms Vision des kommenden Untergangs und der unbeschreiblichen Grausamkeiten, die sich kurze Zeit später ereignen sollten. Insofern schätze ich ihn für seine Weitsicht – und die Fähigkeit, so präzise über das zu schreiben, was da auf die Menschheit zukam.
Für „Broken Gargoyles“ kombinieren Sie Heym mit den Fotografien von Ernst Friedrich, die vor allem eins zeigen: Die Soldaten des Ersten Weltkriegs wurden nicht allein durch den grausamen Krieg bestraft, sondern auch durch die anschließende medizinische Behandlung. Ein Tabuthema? Richtig. Die Soldaten wurden als Versuchskaninchen benutzt: Wegen ihrer Gesichtsverletzungen durch Senfgas mussten sie im Hospital bleiben – und wurden zu Opfern von experimentellen Operationen. Also plastischer Chirurgie, die diese armen Teufel noch weiter entstellte. Dann hat man ihnen dünne Masken gegeben, um ihre Wunden zu verbergen – was natürlich für Infektionen sorgte. Nach ihrer Entlassung haben sie wegen ihrer Entstellung keinen Job gefunden. Sie haben sich in Wäldern versteckt, sind zu Bettlern geworden und haben sich irgendwann selbst umgebracht. Eine historische Tatsache, die nur in medizinischen Fachbüchern aus dieser Zeit erörtert wird, die sehr selten sind.
"Entweder werden sie als Zombies auf die Gesellschaft losgelassen, in der sie nicht klarkommen, oder einfach weggeschlossen."
Wollen Sie damit auf ein düsteres Kapitel der Medizin oder des Militärs aufmerksam machen? Gibt es Parallelen zu unserer Zeit? Am Umgang des Militärs mit psychisch wie physisch schwer verletzten Soldaten aus Afghanistan oder dem Irak hat sich tatsächlich wenig geändert: Entweder werden sie als Zombies auf die Gesellschaft losgelassen, in der sie nicht klarkommen, oder einfach weggeschlossen.
Wie denken Sie über die Entscheidungen des höchsten US-Gerichts, Abtreibungen zu kriminalisieren, aber die Waffengesetze weiter zu lockern? Ich würde sagen, wir haben echte Probleme – mit Leuten wie diesen, deren Kopf ganz tief im eigenen Arsch festhängt. Die ernsthaft denken, für Frauen wäre es doch ganz einfach, selbst zum Kleiderbügel zu greifen oder woanders Hilfe zu suchen als bei richtigen Ärzt*innen. Alle – Männer wie Frauen –, die für diesen Blödsinn gestimmt haben, haben keine Ahnung, was es heißt, vergewaltigt und vielleicht sogar gegen den eigenen Willen schwanger zu werden. Männer, die ihre sexuelle Wut an Frauen ablassen, leiden für gewöhnlich unter Erektionsstörungen und sind unfähig, eine normale Beziehung zu führen. Aber natürlich ist das eine Sache, über die kaum diskutiert wird – also die wahren Ursachen von sexueller Gewalt und sexuellen Übergriffen. Ich kann es nicht fassen, dass man eine Frau, die von mehreren Kerlen vergewaltigt wurde, dazu zwingt, das Kind, das auf diese Weise entstanden ist, auch noch auszutragen – weil das einem christlichen Handeln entspräche. Das ist wie die doppelte Bestrafung der Soldaten im Ersten Weltkrieg.
„Mir geht es darum, das ganze Ausmaß an Menschenfeindlichkeit aufzuzeigen."
Das sogenannte Building 18 in Washington – das erst vor wenigen Jahren aufgegeben wurde – war zum Beispiel eine echte Kloake, in der Veteranen regelrecht vor sich hin vegetierten: mit Schimmel an den Wänden, defekten Rohrleitungen, ohne Klimaanlage und ohne medizinische Betreuung. Solche versteckten Orte, über die nicht geredet wird, gibt es überall. Und mir geht es darum, das ganze Ausmaß an Menschenfeindlichkeit aufzuzeigen. In meinem Land ist es besonders erschreckend.
Warum sind Sie „Broken Gargoyles“ ausgerechnet während Covid angegangen? Eigentlich habe ich schon vor zehn Jahren mit diesem Projekt angefangen. Da war die einzige Pandemie weit und breit Aids – und nichts anderes. Es haut mich immer wieder um, welche merkwürdigen Analogien zwischen Covid und Aids hergestellt werden – als ob sie irgendetwas miteinander zu tun hätten. Als ob sie zum Beispiel beide göttliche Strafen an den Menschen wären – für deren Verfehlungen. Das ist absolut unhaltbar und zeigt einmal mehr, wie jung, naiv und auch dumm die USA als Land sind. Es werden Beziehungen hergestellt, wo es keine gibt. Und als ob Künstler*innen nicht in der Lage wären, etwas zu machen, ohne dass sie vorher darüber in der Zeitung gelesen hätten. Wobei es allerdings auch viele gibt, die wirklich so vorgehen: Sie lesen eine Zeitung und sagen: „Oh, mein Gott, das scheint ein angesagtes Thema zu sein. Ich sollte mich damit beschäftigen, weil ich so mehr Platten verkaufe.“ Da kann ich nur sagen: „Wisst ihr was? Es ist mir scheißegal, ob ich Platten verkaufe oder nicht. Ich möchte nur nicht in Tiefschlaf verfallen, während ich arbeite.“ (lacht)
„Was ist schlimmer? Der Virus oder die Kunst, die daraus resultiert?"
Also ist von Ihnen kein Covid-Projekt zu erwarten? Niemals! Ich meine: Was ist schlimmer? Der Virus oder die Kunst, die daraus resultiert? Bei der Aids-Epidemie war es auch schon so, dass das Schlimmste daran quasi die begleitende Kunst war. Plötzlich fingen all diese an kompletter Selbstüberschätzung leidenden, infantilen Künstler an, Bilder von Senator Jesse Helms Penis zu malen. Im Ernst: Es gab mehrere Tausend davon. Ich dachte nur: Wirklich? Und das Schlimme ist: Heute sind nicht nur ein paar Tausend verwirrt, sondern fast alle.
Was kaum jemand weiß: Neben Ihren Performances und Alben haben Sie in den 80ern und 90ern auch für Hollywood gearbeitet und u. a. die Hexe in „Conan der Barbar“ vertont, die Sex mit Arnold Schwarzenegger hat. Wie sind Sie zu der Rolle gekommen? Oh Gott, Gnade! (lacht) Das ist ein dunkles Kapitel meiner Geschichte. Den Deal hatte meine Verlegerin eingefädelt – hinter meinem Rücken. Denn seien wir ehrlich: Die Idee, dass ich irgendetwas mit einem Schwarzenegger-Film zu tun haben könnte, ist geradezu absurd. Und als ich mitbekam, dass sie auf diese Offerte eingegangen war, war ich ziemlich vor den Kopf gestoßen. Nur: Aus der Nummer kam ich nicht mehr heraus. Den fertigen Film habe ich nie gesehen.
Verraten Sie uns, wie es bei Ihnen weitergeht? Woran arbeiten Sie? Ich habe gerade eine Woche damit verbracht, mir Filme und Dokumentationen über Pädophilie in der katholischen Kirche anzuschauen – also ausgeübt von Priestern und anderen Würdenträgern.
„Was ich bislang erfahren habe, zieht mir – gelinde gesagt – die Schuhe aus"
Das ist einfach so passiert, ohne konkreten Anlass. Ich hatte mich nie groß damit befasst, aber auf einmal war ich geradezu besessen davon, so viel wie möglich darüber herauszufinden. Und was ich bislang erfahren habe, zieht mir – gelinde gesagt – die Schuhe aus. Eben weil es die immer gleiche Geschichte ist – in Amerika, in Irland, England, Kanada und Europa – und sich da einfach nichts ändert. Die Kirche versucht immer, sich mit Geld aus der Verantwortung zu stehlen. Was bedeutet, dass dieser Missstand immer weitergeht. Und es ist geradezu lächerlich, wenn der Papst dann mal kurz nach Kanada fliegt, um sich zu entschuldigen – und so zu tun, als ob damit alles erledigt wäre. Für mich bedeutet eine Entschuldigung eher, dass man zwar etwas sagt, insgeheim aber denkt: „Eigentlich habe ich keine Zeit, da etwas zu ändern. Es ist halt, wie es ist.“
Also sollte man die Kirche verbieten – um die Menschen vor ihr zu schützen? Das wäre wahrscheinlich das Beste. Ich meine, ich habe gerade ein paar Dokumentationen darüber gesehen, wie die indigene Bevölkerung Kanadas von der Kirche behandelt wurde. Und da fühlte ich mich doch sehr an die Fotos Ernst Friedrichs erinnert.
Diamanda Galás' neues Album „Broken Gargoyles" (Intravenal Sound Operatio/Indigo) ist jetzt im Handel erhältlich
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