Gedenken zum 9. November: Zusammenhalt gegen Antisemitismus
Anlässlich des 85. Jahrestags der Novemberpogrome kritisiert SIEGESSÄULE-Kolumnistin Michaela Dudley die schwindende Empathie gegenüber jüdischen Menschen und die fehlende Solidarität in der LGBTIQ*-Community, insbesondere im Kontext des jüngsten Hamas-Angriffs auf Israel am 7. Oktober
Der heutige Tag gilt als „Schicksalstag der Deutschen“. Zweifelsohne wohnt dieser Beschreibung viel Pathos inne. Aber Pathos kommt nicht von ungefähr. An diesem Datum beispielsweise im Jahre 1918 war das Kaiserreich in Folge des Kieler Matrosenaufstandes dem Tode geweiht. Philipp Scheidemann, Fraktionschef der SPD, trat auf den Balkon des Reichstagsgebäudes. „Das alte Morsche ist zusammengebrochen! Der Militarismus ist erledigt“, verkündete er und rief die Republik aus. Schon deshalb ist der 9. November in Deutschland mit Aufbruch verbunden. 71 Jahre später wurde am gleichen Tag die Berliner Mauer mitsamt DDR zu Fall gebracht. Die „innerdeutsche“ Grenze löste sich zumindest physisch auf.
Am 9. November 1923 unternahm aber auch in München ein bis dahin unbekannter Parteivorsitzender einen Putschversuch gegen die Reichsregierung. Bei dem Marsch auf die Feldherrenhalle rückte Adolf Hitler aus dem Bierkeller heraus und in die breite Öffentlichkeit hinein. Der Österreicher wurde zu fünf Jahren Haft verdonnert, nach aber neun Monaten wieder freigelassen. Als verurteilter Ausländer hätte er, laut § 9 des Republikschutzgesetzes, eigentlich des Landes verwiesen werden müssen. Dass er in Deutschland bleiben, die NSDAP weiterführen und seine in der JVA Landsberg verfasste, antisemitische Schmähschrift feilbieten durfte, waren gravierende Versäumnisse. Zehn Jahre später wurde er Reichskanzler. Knapp fünf Jahre danach erfolgte das, was im Grunde genommen der Probelauf für den Holocaust war.
Zustand tiefer Verzweiflung
In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 richtete sich quer durch Deutschland der „Volkszorn gegen das Judentum“. Angehörige der SA und der SS verwüsteten 1.500 Synagogen und plünderten jüdische Geschäfte. Das, was sie nicht mitnahmen, schlugen sie kurz und klein und steckten es in Brand. Tausende Jüdinnen und Juden wurden ohne ordentlichen Haftbefehl festgenommen und landeten in Konzentrationslagern, wo Aberhunderte zu Tode gequält wurden oder sich das Leben nahmen. Die staatlich organisierte Orgie aus Gewalt und Hass ging als „Reichskristallnacht“ in die Geschichte ein, nach den Glasscherben eingeschlagener Schaufensterscheiben benannt. Das ist mittlerweile 85 Jahre her. Aber die Novemberpogrome von damals sind in der Gegenwart, zumindest für manche Mitbürger*innen, wieder spürbar. Wir brauchen nicht um die heißen Brei herumreden.
„Die Novemberpogrome von damals sind in der Gegenwart, zumindest für manche Mitbürger*innen, wieder spürbar.“
Seit dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober befinden sich Jüdinnen und Juden weltweit in einem Zustand tiefer Verzweiflung. Der Überfall ereignete sich am Festtag Simchat Tora und zum 50. Jahrestag des Jom-Kippur-Krieges.
Diese von der Hamas als „Al-Aqsa-Flut“ bezeichnete Terroraktion gilt als blutigster Mordanschlag gegen jüdische Menschen seit dem Holocaust. Etwa 1.400 Israelis wurden heimtückisch ermordet – Männer, Frauen, Kinder. Von Säuglingen bis hin zu Überlebenden der Shoa. Erschlagen, erschossen, vergewaltigt, verstümmelt. Die horrenden Beweisvideos, von der Hamas selbst aufgenommen, wurden wie Werbeclips eifrig ins Netz gestellt.
Zu den Todesopfern zählten hunderte Besucher*innen des Psytrance-Festivals Supernova Sukkot Gathering nahe dem Kibbuz Re’im. Meine Freundin Mava war an dem Tage in Askelon, nicht sehr weit entfernt. Die in Brooklyn geborene Künstlerin ist nun wieder zu Hause in Wien. Körperlich weitgehend unversehrt, aber seelisch am Ende. Andere, rund 200 israelische und internationale Staatsbürger*innen, welche die Attacken überlebt haben, sind noch lange nicht aus der Gefahr. Denn sie wurden nach Gaza verschleppt, um als Verhandlungsmasse bei Gesprächen um die Freilassung palästinensischer Gefangener in Israel zu dienen.
Antisemitismus auf Berlins Straßen
Währenddessen weitet sich der Konflikt auf die Straßen und die Schulhöfe aus. Doch damit nicht genug: Israelis bzw. jüdische Menschen durften kaum trauern, geschweige denn ihre Empörung über den Hamas-Terror zeigen, da wurden sie schon kritisiert, als wären sie die Täter*innen. Als müssten sie Rede und Antwort stehen, was jedwede politische Entscheidung Israels anbelangt. Viele der ermordeten Israelis hatten nicht nur gegen ihren erzkonservativen Ministerpräsidenten Netanjahu, sondern auch für einen friedlichen Umgang mit Palästina demonstriert.
„Israelis bzw. jüdische Menschen durften kaum trauern, da wurden sie schon kritisiert, als wären sie die Täter*innen.“
Wer hier in Berlin eine Kippah oder den Davidsstern öffentlich trägt, läuft Gefahr, nicht nur beschimpft oder bespuckt, sondern auch verprügelt zu werden. Jüdinnen und Juden hocken aus Angst in ihren Wohnungen. Draußen auf dem Bürgersteig sind die Stolpersteine, die an das Nicht-Vergessen erinnern, während frische Schriftzüge wie „Judaa verrecke“ an der Hauswand prangen. Im Namen des palästinensischen Freiheitskampfs werden „judenfreundliche“ Lokale in Neukölln überfallen. Auf Demonstrationen schwenkt man auch die Fahnen von Al-Qaida und ISIS – und einige Mitglieder unserer Regenbogen-Community laufen mit, ohne die queerfeindliche Hamas-Politik begriffen zu haben.
Aus- und Aufbruch aus der Vergangenheit
Aber was geht uns der Terror gegen Israel überhaupt an? Wir sind queer, und demnach obliegt es uns, Solidarität mit anderen marginalisierten Gruppen in Wort und Tat zu zeigen. Davon abgesehen, dass es ohnehin zahlreiche jüdische Queers gibt, erst Recht in Berlin, dürfen wir unser Mitgefühl nicht auf die LGBTIQ*-Community beschränken. Sowieso war der Gelbe Stern nicht das einzige Zwangskennzeichen, das auf KZ-Häftlingskleidung aufgenäht war – es gab auch den Rosa Winkel. Was spricht dagegen, unsere jüdischen Freund*innen, Bekannten und Kolleg*innen zu fragen, wie es ihnen wirklich geht und was man in diesen finsteren Tagen für sie tun kann?
„Was spricht dagegen, unsere jüdischen Freund*innen, Bekannten und Kolleg*innen zu fragen, wie es ihnen geht und was man in diesen finsteren Tagen für sie tun kann? “
In eigener Sache: Als Schwarze, katholische Agnostikerin, die seit 40 Jahren ihr Anfänger-Hebräisch nahezu makellos beherrscht, mache ich keinen Hehl daraus, dass ich solidarisch zu Israel stehe. Israel hat gemäß Art. 51 der UN-Charta das Recht auf die bewaffnete Selbstverteidigung, und das befürworte ich. Gleichwohl möchte ich betonen, dass pro-israelisch nicht gleich anti-palästinensisch ist. Seit fünf Jahren betreue ich im Rahmen ehrenamtlicher Projekte z. B. in Berlin auch queere palästinensische Geflüchtete aus Gaza sowie aus Westjordanland und der Türkei. Das, was diese mutigen Menschen über Hamas, Hisbollah & Co. und deren in Deutschland tätigen Jubeltruppen zu sagen haben, ist nicht sehr freundlich.
Auf jeden Fall ist der 9. November zum Nachdenken da. Gender- und konfessionsübergreifend müssten wir darüber reflektieren und hoffentlich wahrnehmen, dass wir nur dann eine Zukunft haben, wenn wir gemeinsam aus der Vergangenheit aus- und ja, aufbrechen.
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