Eine unbesiegte Pandemie
Corona hat bei vielen Erinnerungen an eine andere Pandemie geweckt, die auch in Deutschland immer noch fast täglich Menschenleben fordert. Dirk Ludigs ruft dazu auf, gerade in Zeiten der Krise beim Thema HIV/Aids genauer hinzuschauen
Lange ist mir das Thema Aids nicht mehr so nahe gegangen wie dieses Jahr, inmitten einer ganz anderen Pandemie. Corona und seine Folgen hat viele von uns, die in besonderer Weise von HIV und Aids betroffen waren oder sind, bewältigt geglaubte Gefühle wieder spüren lassen, hat Erinnerungen geweckt, neue Momente der Trauer ausgelöst und nicht selten auch die ohnmächtige Wut wieder hervorgeholt, die in meiner Generation vor allem in der Hochphase des Sterbens so oft tägliche Begleiterin war.
Gleichzeitig hat mir, das finde ich auch wichtig zu erwähnen, diese fast körperliche und unzumutbare Erinnerung an die Katastrophe von damals Bewältigungsstrategien an die Hand gegeben und Widerstandskräfte in mir entfacht, die mir sehr geholfen haben und weiter helfen, durch dieses annus horribilis coroniensis zu kommen – vielleicht sogar besser als jene, die in unseren Wattewelten westlicher Zivilisation mit wirklich existentiellen Schrecken, Göttinnen sei Dank, bisher nie konfrontiert waren.
Ich weiß aber auch, dass es vielen Langzeitpositiven und vielen, die als Pflegende oder Angehörige durch die Aidszeiten der Achtziger und Neunziger hindurchmussten, anders geht, dass sie diese Kraft nicht aufbringen können, weil das Trauma sie noch immer außerordentlich und im Alter oft wieder stärker belastet. Sie in diesen Zeiten nicht im Stich zu lassen, Kontakt zu halten ist gerade wichtiger denn je.
Über 10.000 Menschen in Deutschland wissen nichts von ihrer HIV-Infektion
Es fühlt sich also kurz gesagt, sehr seltsam an, mitten im Lockdown der einen Pandemie einer anderen zu gedenken.
Der Welt-Aids-Tag, seit 1988 am 1. Dezember begangen, war zu Anfang vor allem von gegenseitiger Solidarität und dem Kampf um Zugang zu medizinischer Versorgung und gegen Diskriminierung und Unsichtbarmachung geprägt. Im letzten Jahrzehnt ist er mehr und mehr zu einer Art zusätzlichem Gedenktag geworden, so zufällig und so praktisch nach Volkstrauertag und Totensonntag, mehr letzter Tag im November, als erster Tag im Dezember mit dem ganzen Weihnachtsschmu.
Es ist wünschenswert, dass Aids/HIV in der aktuellen Krise nicht noch weiter aus dem Blickfeld verschwindet, sondern dass wir im Gegenteil wieder stärker hinschauen! Denn Aids/HIV ist keineswegs vorbei und die Situation, wie sie ist, kann niemanden zufriedenstellen:
Noch immer wissen zwischen 10.200 und 11.500 Menschen in Deutschland nichts von ihrer HIV-Infektion, obwohl der Test ihnen nicht nur Sicherheit brächte, sondern auch hochwirksame Medikamente zur Verfügung stehen, die den Ausbruch der Krankheit dauerhaft verhindern. Man mag es kaum glauben, dass von den insgesamt 3300 HIV-Neudiagnosen des Jahres 2019 mehr als die Hälfte einen bereits fortgeschrittenen Immundefekt und über 500 der Betroffenen schon das Vollbild Aids entwickelt hatten. (Zahlen: von 2019, Quelle: RKI) Und auch diese Zahl macht traurig: Im Durchschnitt stirbt weiterhin fast jeden Tag des Jahres ein Mensch in Deutschland an den Folgen von Aids.
Angst vor Diskriminierung
Stigma und Angst vor Diskriminierung ist eine der Hauptursachen dafür, dass Menschen nicht zum Test gehen, bis es zu spät ist. In einer aktuellen Umfrage der Deutschen Aidshilfe in Zusammenarbeit mit dem Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) berichten 56 Prozent der befragten Menschen mit HIV, dass sie in den vergangenen 12 Monaten mindestens eine diskriminierende Erfahrung im Gesundheitswesen gemacht haben. Fast drei Viertel aller Befragten offenbaren ihre Infektion deswegen nicht oder nur selten gegenüber anderen Menschen, vor allem nicht am Arbeitsplatz.
Ein schwuler Gesundheitsminister kann seine Corona-Infektion locker öffentlich bekannt machen – mit einer HIV-Infektion wäre das etwas völlig anderes. Das medizinische Wissen um HIV/Aids ist nicht nur in der jüngeren Generation zum Teil erschreckend gering. Das Wissen darum, dass Menschen mit HIV unter funktionierender Therapie nicht ansteckend sind, hat sich zwar seit 2017 fast verdoppelt, aber noch immer wissen das beschämende 82 Prozent aller Menschen in Deutschland nicht.
Kein Zugang zu HIV-Medikamenten
Beschämend ist auch, dass in einem so reichen Land wie Deutschland noch immer so viele Menschen keinen Zugang zu HIV-Medikamenten haben: weil sie nicht krankenversichert sind, weil ihnen im Knast aus Kostengründen eine frühzeitige oder die beste Therapie verweigert wird, weil sie aus Angst vor Abschiebung keine medizinische Hilfe in Anspruch nehmen. In all diesen Fällen treibt die Politik ein zynisches Spiel mit der Gesundheit und dem Leben von Menschen. Das muss endlich aufhören und dafür brauchen diese besonders vulnerablen Gruppen queere Solidarität und ein Wiedererstarken der „Koalition der Schmuddelkinder“ wie sich die HIV-Bewegung in ihren Anfangstagen nicht ohne Stolz bezeichnete.
Der Welt-Aids-Tag ist mehr als ein Gedenktag. Er ist die jährlich wiederkehrende Aufforderung, eine Pandemie zu besiegen. In Deutschland, aber auch weltweit. Vieles haben wir erreicht, aber der Kampf ist noch lange nicht gewonnen!
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