Kommentar

Fünf Jahre Hanau: Ausdruck eines strukturellen Problems

18. Feb. 2025 Zuher Jazmati
Bild: Privat
Erinnerung, Gerechtigkeit, Aufklärung und Konsequenzen – sind die Forderungen der Angehörigen und Überlebenden.

Am 19. Februar 2020 tötete ein Rassist und Rechtsextremist in Hanau neun Menschen: Mercedes Kierpacz, Ferhat Unvar, Hamza Kurtović, Said Nesar Hashemi, Vili Viorel Păun, Kaloyan Velkov, Fatih Saraçoğlu, Sedat Gürbüz und Gökhan Gültekin. Fünf Jahre später bleibt das staatliche Versagen offenkundig, und die politischen Lehren aus dem Anschlag sind ausgeblieben.

Nach dem Anschlag am 19. Februar 2020 versprach die damalige Bundesregierung Konsequenzen zu ziehen, unter anderem schärfere Waffengesetze – bis heute ohne Umsetzung. Laut Small Arms Survey verfügt Deutschland über etwa 15,8 Millionen registrierte und illegale Waffen. Bis heute kämpfen die Familien und Überlebenden des Attentats um Konsequenzen, Gerechtigkeit, Erinnerung und Aufklärung. Sie haben u.a. mit der „Initiative 19. Februar“ eine Gedenk- und Erinnerungskultur geschaffen, die in der Art vorher noch in Deutschland unbekannt war: dass nämlich von nun an, nicht der Name oder das Gesicht des Täters im Mittelpunkt steht, sondern die neun Opfer dieses Attentats. Ihre Geschichten sollten in Erinnerung bleiben, nicht die Perspektive des Täters.

„Die permanente Enttäuschung gegenüber Opfern rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt zeigt eine Kontinuität dieser Taten auf."

Gleichzeitig blieben die verantwortlichen Polizeibeamt*innen und Politiker*innen für das behördliche Versagen in Hanau weitestgehend unbehelligt und das, obwohl weiterhin so viele Fragen zum Umgang der Polizei in der Tatnacht offen sind. Die unzähligen Lücken und Behördenversagen hat die Initiative 19. Februar gemeinsam mit der Rechercheplattform Forensic Architecture akribisch und minutiös in der Ausstellung „Three Doors“ öffentlich gemacht. Besonders das Versagen des Polizeinotrufs und das Verschließen eines Notausgangs an einem der Tatorte stehen symbolisch für den systemischen Rassismus und das Versagen Sicherheitsbehörden während der Tatnacht. Der ignorante und bagatellisierenden Umgang der Verantwortungsträger*innen in Deutschland mit den Opfern rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt ist permanent. Hanau ist kein Einzelfall.

Bild: Initiative 19. Februar
Portraits der Opfer des rassistischen Anschlags vom 19. Februar 2020 in Hanau.

Doppelmoral und Täter-Opfer-Umkehr

Rassismus fängt nicht bei Staatsangehörigkeiten an, und er hört dort auch nicht auf. Rassifizierte Menschen werden nicht als Individuen wahrgenommen, sondern als kollektive, eindimensionale Masse. So war auch das Weltbild des Täters von Hanau geprägt, das sich aus Pamphleten früherer Rechtsterroristen und der Verehrung rechtsextremer Parteien und Politikern der AfD speiste. Gleiches zeichnete sich beim Attentäter des Anschlags auf den Weihnachtsmarkt in Magdeburg am 20. Dezember 2024 ab, bei dem ein Mann aus Saudi-Arabien sechs Menschen tötete und zahlreiche verletzte. Dass der Mann ein geschlossen rechtsextremes Weltbild hatte und dieses mehrmals in Sozialen Medien öffentlich machte, spielte kurz nach der Tat kaum noch eine Rolle. Im Vordergrund stand vor allem, dass der Täter Migrant war.

Diese Doppelmoral unterstreicht, wie selektiv Täter*innen- und Opferrollen in rassistischen Diskursen vergeben werden. Wenn „wir" Täter sind, folgen schnell die Debatten um Strafrechts-, Asyl- und Migrationsrechtsverschärfungen. Wenn „wir" Opfer sind – wie in Hanau, Halle oder München – bleiben harte Konsequenzen aus. Diese Mechanismen prägen die rassistische Logik hinter medialer Berichterstattung und politischen Debatten. Nicht „wir" erschaffen das „Wir vs. Sie", sondern die Dominanzgesellschaft, die sich über die Abgrenzung des rassifizierten Anderen definiert.

In Zeiten eines polarisierten Wahlkampfs, bei dem die rechtsextreme AfD seit Monaten in den Umfragen zweitstärkste Kraft bei der Bundestagswahl werden könnte, stellt sich die Frage, woher diese rassistische Wahrnehmung auf Migration und die Verharmlosung rechter Gewalt in Deutschland rührt. Neue Zahlen der Hochschule Macromedia, die dem Magazin Katapult vorliegen, verdeutlichen folgendes Ergebnis: Während 2023 laut Polizei 33,3 Prozent der Tatverdächtigen bei Gewaltdelikten Nichtdeutsche waren, waren es in den Medien, soweit die Herkunft angegeben wurde, 2,5-mal so viele.

Ein verzerrtes Bild über nicht-deutsche Menschen, das verheerende Folgen hat. Diese Überrepräsentation prägt öffentliche Wahrnehmungen und rechtfertigt rassistische Narrative, denen sich Parteien mittlerweile gerne bedienen, um das Migrationsthema in diesem toxischen Klima weiter auszuschlachten. Doch wo hört diese diskursive Verschärfung gegenüber migrantisierten Menschen auf? Sicherlich nicht, wenn durch die politische Scharfmacherei und Hetze gegenüber Migrant*innen die nächste rassistische Gewalttat verübt wird.

Bild: Katapult CC BY-NC-ND 4.0 Quelle
So berichten Medien über Gewalttaten via Katapult.

Rechte Gewalt sollte in den Fokus

Rassistische Gewalt spielt fast gar keine Rolle, obwohl sie präsenter ist denn je. Laut dem Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG) ereigneten sich allein im Jahr 2023 jeden Tag bis zu sieben rechte Angriffe in elf von 16 Bundesländern, was ein Anstieg von mehr als 20 Prozent im Vergleich zum Vorjahr bedeutete. Das häufigste Tatmotiv rechter Angriffe, wie Körperverletzung oder Sachbeschädigung, ist weiterhin der Rassismus. Auch hier verzeichnet der VBRG einen Anstieg zum Vorjahr, nämlich um 33 Prozent. Es gäbe also genug Grund zur Sorge, sowie Anlass die steigende Gefahr rechter Gewalttaten im Wahlkampf zum Thema zu machen.

„In einem Land, in dem migrantisierte Menschen kaum wahrgenommen werden, wenn sie Opfer sind sondern nur, wenn sie als Täter*innen auffallen, bleibt kein Platz um über tief verwurzelte Strukturen zu sprechen."

Doch in einem Land, in dem migrantisierte Menschen kaum wahrgenommen werden, wenn sie Opfer sind sondern nur, wenn sie als Täter*innen auffallen, bleibt kein Platz um über tief verwurzelte Strukturen zu sprechen. Die Initiative 19. Februar fasste die Tat von Hanau so zusammen: „Das war kein Einzelfall, sondern Ausdruck eines strukturellen Problems.“

Die aktuellen Debatten verschärfen und reproduzieren Rassismen und schaffen für viele migrantisierte Menschen in Deutschland ein Klima der Angst. Nicht erst seit Neuestem überlegen deshalb auch viele von ihnen, Deutschland zu verlassen und in ein anderes Land auszuwandern. Es ist Ausdruck eines sich lange anbahnenden Frusts und einer Wut aufgrund rassistischer Diskurse und Erfahrungen, die PoC alltäglich hier machen. Es zeigt aber auch die Wahrnehmung, dass ihre Sorgen und Ängste nicht ernstgenommen werden – auch nach rassistischen Gewalterfahrungen. Rassistische Täter-Opfer-Umkehr oder viele Jahre zwischen Tat und Hauptverhandlungen führen zu einer Entmutigung der Opfer. Sie senden aber auch das Signal an die Täter*innen, dass sie wenig bis gar keine Konsequenzen zu befürchten haben, weder politisch noch juristisch.

Dokumentiertes Versagen der Sicherheitsbehörden

Die Bundesregierung muss endlich schärfere Waffengesetze umsetzen, um den Zugang zu tödlichen Waffen zu erschweren. Unabhängige Beschwerdestellen müssen geschaffen werden, um Betroffenen von Polizeigewalt eine wirksame Anlaufstelle zu bieten. Racial Profiling muss gesetzlich verboten werden, um rassistische Praktiken innerhalb der Polizei zu beenden. Rechte Netzwerke in Sicherheitsbehörden müssen konsequent aufgedeckt und zerschlagen werden, um das Vertrauen in staatliche Institutionen wiederherzustellen.

Der Anschlag vom 19. Februar in Hanau verdeutlicht, dass rassistische Gewalt in Deutschland kein isoliertes Phänomen, sondern Ausdruck tief verwurzelter struktureller Probleme ist. Das dokumentierte Versagen der Sicherheitsbehörden steht sinnbildlich für institutionellen Rassismus, der migrantisierte Menschen nicht schützt, sondern zusätzlich gefährdet.

Gleichzeitig reproduzieren mediale Narrative rassistische Feindbilder, indem sie Täterprofile entlang ethnischer Linien betonen, während rechte Gewalt verharmlost oder ausgeblendet wird. Diese diskursive Verzerrung wird in einem politischen Klima verstärkt, das Migration vorrangig als Sicherheitsproblem diskutiert und rechte Narrative für Wahlkampfzwecke instrumentalisiert. Solche Mechanismen offenbaren, dass Rassismus nicht auf individuelles Fehlverhalten beschränkt ist, sondern eine gesellschaftliche Struktur bildet, die Sicherheitsdiskurse, mediale Deutungsmuster und politische Prioritäten prägt.

Und doch hat die Geschichte des Rassismus in Deutschland immer wieder gezeigt: Migrant*innen waren nie nur Opfer, sondern auch immer handelnde und sich gegen Rassismus widersetzende Menschen, die für ihre Rechte gekämpft haben. Egal, wie sehr versucht wurde, sie zum schweigen zu bringen.

Demonstration „Die Konsequenz bleibt Widerstand"
Das Netzwerk Migrantifa ruft bundesweit zum antirassistischen Kampftag auf – dafür sammeln sie auch Spenden, „weil Widerstand kostet".
19.02., 17:30 Gedenkkundgebung, 19:00 Demostart
Sonnencenter, High-Deck-Siedlung
instagram.com/migrantifa_berlin

Folge uns auf Instagram

#Demo#Sicherheitsbehörden#Waffengesetz#Forensic Architecture#Initiative 19. Februar#Rechtsextreme Gewalt#Gökhan Gültekin#Sedat Gürbüz#Fatih Saraçoğlu#Kaloyan Velkov#Vili Viorel Păun#Said Nesar Hashemi#Hamza Kurtović#Ferhat Unvar#Mercedes Kierpacz#Rassismus#Hanau#strukturelle Probleme

Das Siegessäule Logo
Das Branchenbuch mit Haltung
Queer. Divers. Überzeugend.