FLINTA* rappen gegen Sexismus, Queerfeindlichkeit und Rassismus
Die ersten Assoziationen bei Deutschrap sind für viele: Bushido, Sido, Haftbefehl oder Capital Bra. Doch abseits der noch immer cis-männlich dominierten und heteronormativen Hip-Hop-Szene in Deutschland rappen im Underground FLINTA* gegen Sexismus, Queerfeindlichkeit und Rassismus. SIEGESSÄULE-Autorin Ella Strübbe sprach mit den Berliner Musiker*innen Alice Dee, Ebow und Lena Stoehrfaktor über die Szene
Frühling 2022. Ich steh auf einer Studiparty mit Kommiliton*innen in einem Bierzelt, es läuft Deutschrap und wir grölen mit. Doch was wir grölen, ist nicht Sido, nicht Haftbefehl oder Kool Savas; nicht über Geld und Drogen, sondern Texte von der Rapperin Ebow über lesbische Liebe, Kurdistan und Statussymbole. FLINTA*-Rap war mir bis dato unbekannt.
Jahre später. Es ist Freitagabend und ich höre Alice Dee bei einer Cypher zu. Der Ausdruck beschreibt in der Hip-Hop-Szene einen Freestyle, bei dem mehrere Rapper*innen nacheinander auftreten. Solche Events finden in Berlin wöchentlich statt, immer an verschiedenen Orten – in der Bunten Kuh in Weißensee, im Lauschangriff in Friedrichshain oder im Kiki Sol im Wedding. „Wenn du in einem Raum mit 10, 15 cis Dudes bist, fühlst du dich immer wie ‚the odd one out‘“, sagt der*die nicht binäre Musiker*in Alice Dee im Gespräch mit SIEGESSÄULE. Dee rappt auf 140 BPM, die Musik klingt wie Hip-Hop, gemixt auf einen Techno-Beat. Die Texte gehen um Community, soziale und politische Ungerechtigkeit, Mental Health und Queerness. In der Vergangenheit hat Alice sich häufiger gefragt, ob solche Tracks bei einem Major-Label überhaupt produziert werden könnten. Antwort: Eher nicht.
Szenenübergreifende Offenheit
Gerade in Berlin gibt es neben Alice Dee und Ebow noch eine ganze Reihe erwähnenswerter queerer FLINTA*-Rapper*innen: Sookee, Nura, JNNRHNDRXX, Msoke, Lena Stoehrfaktor, Babsi Tollwut, FaulenzA ... „Die meisten queeren Artists arbeiten independent“, erklärt Ebow gegenüber SIEGESSÄULE. Sie selbst hat kein Label, das hinter ihr steht. Auf diese Weise sei sie nicht an irgendwelche Deals gebunden und könne einfach, wie sie wolle, Musik rausbringen. Sie musste sich jedoch viel Wissen aneignen und war schon immer sehr auf Unterstützung angewiesen – auf ein Netzwerk, welches auch ohne Major-Label-Budget mit ihr arbeitet. Ohne diese Menschen wäre es nicht möglich gewesen, die Künstlerin zu werden, die sie heute ist. Die Rapperin war kürzlich in Istanbul auf einem Konzert von Mabel Matiz – einem queeren Pop-Rock-Musiker. „Die Crowd war extrem divers. Auch Heteropärchen und straighte Männergruppen haben seine Musik gefeiert“, erinnert sich Ebow. Diese szenenübergreifende Offenheit und Wertschätzung für die Musik allein vermisst sie in Deutschland.
„Der gewöhnliche Deutschrap-Fan hört meine Musik, sieht mich und denkt sich, was ist das für eine Terrorlesbe?“
„Mit einem bestimmten Aussehen kannst du Musik machen, wie du willst“, sagt Lena Stoehrfaktor im Interview mit SIEGESSÄULE. Die Menschen seien viel gnädiger, wenn man als „attraktiv“ wahrgenommen werde. Sie als Frau müsse perfekte Tracks liefern, da man(n) sie strenger bewerte. „Der gewöhnliche Deutschrap-Fan hört meine Musik, sieht mich und denkt sich, was ist das für eine Terrorlesbe? Die sieht ja gar nicht aus, wie die Frauen, die mir sonst als ‚geil‘ verkauft werden. Direkte Abwehrreaktion – find ich scheiße“, so Lena. Besonders FLINTA* müssten immer ein sexy Entertainment liefern, im Gegensatz zu ihren cis-männlichen Kollegen. FLINTA*-Rapper*innen brauchen also vor allem „Pretty Privilege“, um im Mainstream erfolgreich zu sein. Dieses Phänomen beschreibt Menschen, die dem gängigen Schönheitsideal entsprechen, bessere Jobs bekommen, mehr Erfolg haben, mehr Freund*innen …
Cis Männer würden sich – egal, wie sie aussehen – in der Branche als gegebene Norm sehen. „Sie rappen über die Welt, ihre Welt. FLINTA* rappen über ihre Reaktion auf das Patriarchat”, so Lena. Für Alice Dee hat sich in den letzten Jahren jedoch etwas verändert. „Es gibt mehr Typen, die sich kritisch mit toxischer Männlichkeit befassen, mehr Tracks, in denen neue Ansätze im Umgang geschaffen werden“, hält Alice dagegen. Ich denke direkt an den Berliner Rapper Apsilon und seinen Track „Baba“ über seinen Vater: „Ich wünscht, er würd nicht immer lächeln / Dann könnt ich Schmerz, der echt ist, zeigen.“
Wo ist die queere Variety in Berlin?
Dee sieht sich als weiße Person in der Verantwortung, die eigene Stimme zu nutzen, um für Themen wie Rassismus zu sensibilisieren. „Für mich ist Hip-Hop immer politisch, es drückt eine Perspektive von Minderheiten in der Gesellschaft aus.“ Queere Personen sind im Deutschrap zwar noch immer in der Unterzahl, aber nicht unsichtbar. Ob es aber eine queere Deutschrap-Szene gibt, darüber lässt sich streiten. „Es gibt sie zu wenig – eine wirklich queere Community im Deutschrap. Oft ist es eher eine Scheincommunity“, meint Lena. Konkurrenzdruck, Patriarchat und der Kapitalismus stünden einer echten LGBTIQ*-Community im Weg. Ebow bejaht die Frage hingegen: „Definitiv. Doch Variety, wie Queerness aussehen kann, fehlt. Du musst entweder super maskulin oder super Femme sein, alles, was dazwischen ist, wird nicht gesehen.“ Alice ist öfter in Brasilien unterwegs. Dort gibt es viele selbst organisierte Rap-Battles auf der Straße, von nicht weißen, queeren und trans* Personen. „Immer, wenn ich da bin, frage ich mich, warum es das so nicht in Deutschland gibt.“
Ebow: „Lesbisch”
erste Single aus dem kommenden Album „FC Chaya“
seit 01.06. erhältlich
ebow4life.net
Lena Stoehrfaktor: „Beton auf der Zunge” (Single)
seit 21.06. erhältlich
lenastoehrfaktor.de
Alice Dee: „OK Cio“ mit Alarmsignal (Single)
seit 03.05. erhältlich
alice-dee.com
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