„Fetisch verbindet“: Die deutsche Kink- und Fetischszene
„Spielen am Rand“ ist eine umfangreiche Bestandsaufnahme der Kink- und Fetischszene in Deutschland. Herausgegeben vom Rechtsanwalt Thomas Tetzner aus München beinhaltet der Band über 50 Gespräche mit Männern und heiße Fotos
Du beobachtest seit Jahrzehnten den Wandel in der Leder- und Fetisch-Szene. Wie würdest du den beschreiben? Wenn wir Leder als die Großmutter der Fetisch-Richtungen bezeichnen wollen, dann sind wir heute mit den Puppies und ABDL (Adult Baby Diaper Lover) in ganz anderen Generationen angekommen. Sagten die Älteren noch, sie würden miteinander „arbeiten“, wenn sie Sex hatten, „spielen“ die Jüngeren heute miteinander.
Was heißt denn „arbeiten? Ich glaube, der in der älteren Leder-SM-Literatur oft gebrauchte Begriff des Arbeitens rührt von einem Männlichkeitsbild, das uns heute fremd ist. Der Archetyp des Leder-SM-Mann war der „richtige Mann“, der natürlich nicht „spielte“, denn er war ja kein Kind, wohingegen heutzutage auch ein dominanter SM-Meister sehr viel spielerischer mit sich und seinem Fetisch leben darf. Das Männerbild ist, allgemein gesprochen, weicher geworden. Und das gilt selbstverständlich auch in der schwulen Leder-Fetisch-Szene. Da sind heute Leute dabei, die man früher als „Tunte“ diskriminiert und ausgegrenzt hätte, während sie jetzt integraler Bestandteil der Szene sind.
In der heutigen Leder-Fetisch-Szene gibt es auch ältere Menschen. Wie gehen die mit den jüngeren, verspielteren Richtungen um – oder umgekehrt? Um es mal positiv zu sagen: Viele Jüngere finden es ganz toll, was die Älteren gemacht und geschaffen haben, wie sie den Weg bereitet haben. Ältere, häufig genug, staunen darüber, weil sie sich nicht unbedingt als Wegbereiter der Szene verstanden haben. Aber sie nehmen natürlich diesen Zuspruch der Jüngeren gerne an, und sie stehen vielleicht auch deshalb den Jüngeren mit einem besonderen Wohlwollen gegenüber. Zumal ja die Teilhabe der Älteren in der Leder-Fetisch-Szene ohnehin ausgeprägter ist als in der queeren Community insgesamt.
Was genau haben die Älteren denn aufgebaut? Es geht dabei um die Emanzipation der Homosexuellen seit den 60er Jahren, auch wenn ich persönlich große Zweifel habe, ob die Älteren in diesem Zusammenhang tatsächlich so viel getan haben, wie vor allem von vielen Jüngeren geglaubt wird. Wir wissen ja, dass die organisierte Schwulenbewegung gar nicht so viel an der Sichtweise der Mehrheitsgesellschaft verändert hat wie allein die Sendung „Lindenstraße“.
Jüngere haben sich teils auf den virtuellen Raum verlegt, wo Ältere manchmal keinen Zugang finden ... Ich habe eine sehr positive Sicht auf das virtuelle Leben. Auch gedruckte Pornografie vor 30, 40 und 50 Jahren bedeutete schon sexuelle Teilhabe, ohne dass man selbst in unmittelbaren Kontakt mit Dritten kam. Man sah das Pornomagazin, man entwickelte seine Fantasien und kam dann entweder zu einer Befriedigung oder zumindest zu einer Anregung. Und so ist es auch heute im Internet. Es gibt Plattformen, bei denen man entweder nur guckt, oder eben in Austausch tritt mit anderen. Darüber können Leute zur Teilhabe gelangen, die vormals restlos ausgeschlossen waren. Die, die in der tiefsten Provinz lebten, vereinsamt, die konnten früher gar nicht teilhaben, außer sie fuhren ab und zu mal in die große Stadt. Das gleiche galt auch für viele ältere oder behinderte Menschen. Das ist heute durch das Internet viel, viel besser. Man kann übers Internet in die Szene schlüpfen, auch über kleine Gruppen, und ich glaube, dass die Allermeisten inzwischen auch den Übergang vom virtuellen Erleben zum realen Miteinander bewältigen.
Ist Folsom ein solcher realer Treffpunkt? Natürlich, Folsom ist die Adresse für jedermann, der – wie der Soziologe Rüdiger Lautmann jüngst schrieb – die „nicht bürgerliche Homosexualität“ sucht.
„Fetisch verbindet über Altersgrenzen hinweg.“
Würdest du sagen, dass bei so was wie Folsom der Austausch zwischen den Generationen gut funktioniert? Curtis Pucket, einer der aktuellen Vorstände des Münchener Löwen Club e. V., sagt in seinem Interview in „Spielen am Rand“: „Fetisch verbindet über Altersgrenzen hinweg.“
Das Buch bezieht sich auf München. Wie siehst du den Unterschied zwischen einem Lederclub in Bayern und der Berliner Szene? Das Buch ist kein München-Buch, sondern es erschien lediglich aus Anlass des 50-jährigen Gründungsjubiläums des MLC München. Die berücksichtigten Interviews habe ich mit Männern aus dem ganzen deutschsprachigen Raum geführt, mit ganz jungen, ganz alten und allem, was dazwischen ist, darunter einem halben Dutzend Berlinern, aber auch mit Männern aus Hamburg, Wien, Dresden, Leipzig, Köln, Stuttgart und anderswo. Ob es tatsächlich substantielle Unterschiede zwischen den Lederclubs und den Szenen in Berlin und anderen Städten gibt, scheint mir im Übrigen zweifelhaft, auch wenn Berlin eine deutlich größere kommerzielle Szene als beispielsweise München, Hamburg oder Köln hat. München hat dafür mit über 700 Männern den größten schwulen Leder- und Fetisch-Verein Europas.
Was war bei den Interviews das Überraschendste für dich? Überraschend war die fast schonungslose Offenheit, mit der die, die mir ein Interview gaben, über ihre Sexualität, ihre Intimität, ihre Partnerschaften, ihren Blick auf den Wandel der Szene sprachen. Das hat meine Erwartungen weit übertroffen.
„Ich glaube, dass sich die einst vermeintlich so verschlossene, schwarze, kettenrasselnde, cis männliche Lederszene in den nächsten Jahren weiter assimilieren wird.“
Wenn du auf Basis von den Gesprächen in die Zukunft blickst, wo würdest du sagen geht die Reise in den nächsten 20 Jahren hin? Ich glaube, dass sich die einst vermeintlich so verschlossene, schwarze, kettenrasselnde, cis männliche Lederszene in den nächsten Jahren weiter assimilieren wird. So wie das im Berliner KitKat Club und im Berliner Quälgeist schon seit vielen Jahren an den meisten Abenden der Fall ist: Frauen können rein, Frauen können mitspielen. Wir fragen nicht mehr von vornherein nach einer festgelegten Rolle, sondern jeder kann sie selbst definieren, und sei es auch nur für eine einzige Nacht.
Was für eine Botschaft sendet das Cover-Bild deines Buches? Dieses Bild ist ein echter Eye Catcher und es spielt mit altbackenen Vorstellungen von Über- und Unterordnung in SM-Beziehungen. Es ist eine echte Persiflage auf altbekannte Darstellungen im Leder-SM-Bereich. Genauso wie der lachende „Fetisch-Turm“ auf der Rückseite des Buches. Die Umschlaggestaltung zeigt Fetisch-Freunde, die ganz offensichtlich miteinander menschlich Spaß haben.
Seid ihr zu Folsom in Berlin? Ja, der MLC München wird beim Straßenfest mit einem eigenen Stand und vielen Protagonist*innen des Buches präsent sein. Danach touren wir durch Deutschland, weil wir Aufklärung leisten und um Akzeptanz für unsere Szene werben wollen.
Du arbeitest selbst als Rechtsanwalt. Wie ist das für dich, wenn dich Kollegen darauf ansprechen, dass du so ein Buch geschrieben hast? Das geht mir genauso wie allen, die ein Interview gegeben haben. Man erfährt Zuspruch und Gratulation. Das ist wirklich toll. Aber das war bei mir auch schon vor 30 Jahren so, dass Mandanten nach größeren beruflichen Projekten zu mir gesagt hatten: „Jetzt haben Sie wieder Zeit für Ihren Spaßverein.“ Die gesellschaftliche Toleranz für Fetischisten aller Art ist meines Erachtens schon seit vielen Jahren weit größer, als viele denken.
Wie hat dein familiäres Umfeld auf das Buch reagiert? Das Buch habe ich über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahren in Halbtagstätigkeit erarbeitet. Das ist in meinem Umfeld nicht unbemerkt geblieben. Meine Familie war bei der Vernissage dabei. Sie haben sich durch das Buch gelesen und es sehr freundlich kommentiert. Eine Tante etwa ließ mich wissen: „Sei nur froh, dass du in der heutigen Zeit lebst. Ich glaube, wir fahren wieder alles zurück.“
Wie alt ist sie? Fast 80. Und vielleicht hat sie mit ihrem Diktum auch Recht. Ich selbst bin allerdings nicht so pessimistisch für die Zukunft. Es ist auf jeden Fall so, dass der Wendepunkt im Leben eines jeden Schwulen geradezu unabhängig von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen im Erlebnis des eigenen Coming-outs zu liegen scheint.
„Leder war zwar vor ein, zwei Jahrzehnten aus der Mode gekommen, aber niemals verschwunden. Leder ist eine Konstante unserer Szene.“
Ist die Leder- und Fetisch-Szene so abseitig, wie auch dein Buchtitel suggeriert? In seriösen Umfragen zum Thema Sexualität seit den 70er Jahren wurde deutlich, dass sich etwa jeder fünfte Schwule bewusst von Typen angezogen fühlt, die sexuelle Versprechen ausstrahlen, die dem Bereich des Fetischismus oder anderen perversen Tendenzen zuzuordnen sind. Insofern würde ich schon sagen, dass wir innerhalb der queeren Community eine Randgruppe darstellen, wenn auch eine beachtlich große. Wenn man im Buch die Interviews durchgeht, von den Ältesten bis zu den Jüngsten, dann stellt man fest, Leder war zwar vor ein, zwei Jahrzehnten etwas aus der Mode gekommen, aber niemals verschwunden, und heute präsenter denn je. Leder ist eine echte Konstante unserer Szene.
Thomas Tetzner: „Spielen am Rand“
Querverlag, 448 Seiten
49,90 Euro
querverlag.de/spielen-am-rand
Buchpräsentationen
13.09., 19:30, Brunos
14.09., 14:00, Eisenherz
Folge uns auf Instagram
#folsom 2024#Folsom Europe#Leder#Lederclub#Fetisch#Kink#Spielen am Rand#Interview