„Es ist Zeit, dass wir unser Verständnis von Geschlecht updaten“
Es ist ein relativ neues Phänomen, dass Menschen, die weder Männer noch Frauen sind, darauf bestehen, öffentlich auch so angesprochen und behandelt zu werden. Autor*in Lydia Meyer analysiert in „Die Zukunft ist nicht binär“ aktuelle Diskurse und erklärt, was Nichtbinarität alles heißen kann. Am 8. Juni präsentiert Lydia das Buch in der Kantine am Berghain
Lydia, du bist selbst nicht binär. Seit wann benennst du das so? Ich habe den Begriff nicht binär zum ersten Mal 2015 oder 2016 gehört. Das Gefühl war schon vorher präsent, aber der Begriff dazu fehlte. Danach habe ich jahrelang über mich selbst gesagt, ich sei „ja eher nicht binär”. Immer mit dem Wort „eher”. Nach und nach habe ich häufiger und klarer benannt, dass ich nicht binär bin.
Wie haben andere Menschen darauf reagiert? Die Information wurde sehr oft übersehen, überhört oder ignoriert. Ich glaube, viele nicht binäre Personen kennen das: Für uns selbst ist total offensichtlich, dass wir keine Männer oder Frauen sind. Aber das Umfeld scheint uns überhaupt nicht wahr- oder ernst zu nehmen. Wenn andere Menschen mich misgendert haben, also mich mit dem falschen Pronomen angesprochen haben, dachte ich lange: Ja, so ist das halt. Es gibt eben sprachlich nur zwei Möglichkeiten und ich will niemandem auf den Keks gehen. Dabei sorgt die falsche Ansprache dafür, dass ich in Gesprächen irritiert oder abgelenkt bin. Statt mich auf das Gesagte zu konzentrieren, habe ich ständig den Impuls, zu sagen: Das stimmt nicht! Mir wurde klar, wie unklar das Thema für viele Menschen ist. Wie wenig Wissen, Vorstellungsvermögen und auch Literatur es zu dem Thema in Deutschland gibt. Wie viele andere nicht binäre Personen möchte ich mich nicht ständig für mein Geschlecht rechtfertigen. Gleichzeitig müssen wir das ständig tun. Also habe ich mich entschieden, das Buch zu schreiben.
„Für uns selbst ist total offensichtlich, dass wir keine Männer oder Frauen sind. Aber das Umfeld scheint uns überhaupt nicht wahr- oder ernst zu nehmen.“
Verstehst du das Buch als eine Handreichung? Das Buch ist auf jeden Fall für cis Personen geschrieben. Es ist aber keine Anleitung, wie man mit nicht binären Menschen umgehen soll. Eher der Versuch, ein sehr komplexes und vielschichtiges Thema runterzubrechen. Ich selbst werde fast immer als weiblich gelesen. Das ist für mich anstrengend, aber bedeutet auch mehr Sicherheit, als geschlechtlich uneindeutig gelesen zu werden. Ich verstehe es als meine Verantwortung, das mitzubenennen. Denn es gibt verschiedene Zugänge zu diesem Label und viele nicht binäre Geschlechtsidentitäten. Das heißt, dass sich auch die Diskriminierungserfahrungen unterscheiden, die Menschen machen, wenn sie mit dem cisnormativen und zweigeschlechtlichen System brechen. Manche sind stärker davon betroffen, vor allem transfeminine Personen, trans Frauen und Queers, die von Mehrfachdiskriminierung betroffen sind.
Wie lässt sich über Nichtbinarität reden, ohne infragezustellen, was trans Personen erkämpft haben? Die Übergänge zwischen trans und nicht binär sind nicht so starr. Mich wundert es, dass es in einigen Kontexten so getrennt gesehen wird. In vielen Fällen ist die klare Unterscheidung nicht korrekt und der Kampf gegen ausschließende und diskriminierende, cisnormative und starre binäre Strukturen ist ein gemeinsamer. Dabei ist es wichtig, dass man nicht nur auf sich selbst schaut, sondern solidarisch denkt. Viele Menschen wollen sehr wohl als männlich oder weiblich gelesen werden, andere – so wie ich – eben nicht.
Nicht binär ist aber keine neue Schublade, in die man was reinpacken kann. Stattdessen begreife ich es als eine Art, über Geschlecht nachzudenken, die anders funktioniert als auf eine binäre Weise: Eine Denkweise, die auf dem Schirm hat, dass alles nicht so eindeutig ist. Mir geht es um eine Öffnung der Zweigeschlechterordnung, die unvollständig und ausgrenzend ist. Auch die Einteilung in „Sex” und „Gender” reicht nicht und wird von allen möglichen Akteuren genutzt, um an starrer Zweigeschlechtlichkeit festzuhalten. Es ist an der Zeit, dass wir unser generelles Verständnis von Geschlecht updaten und Möglichkeiten schaffen, dass mehr Menschen, die nicht ins binäre System passen, endlich auch gesehen und akzeptiert werden.
„Mir geht es um eine Öffnung der Zweigeschlechterordnung, die unvollständig und ausgrenzend ist.“
Das heißt, eine nichtbinäre Zukunft hat auch Raum für Menschen, die sich mit dem Label „Frau” oder „Mann” wohl fühlen? Offensichtlich. Das Buch heißt: Die Zukunft ist nicht binär. Wohlgemerkt ohne Bindestrich zwischen „nicht” und „binär”. Mir geht es um eine Öffnung der Zweigeschlechterordnung, die unvollständig und ausgrenzend ist.
Der Begriff nicht binär gilt als relativ neu. Warum brauchen wir den überhaupt? Es ist ein klassisches Vorurteil, dass Nichtbinariät etwas Neues ist. Oder, dass es ausgedacht ist, dass nicht binäre Mensche nur Aufmerksamkeit wollen und sich anstellen. Dabei hat es in sämtlichen Gesellschaften nicht binäres, inter und trans Leben gegeben, das finden wir schon bei Platon. Auch Magnus Hirschfeld hat schon vor hundert Jahren ein Buch darüber geschrieben.
Mehrgeschlechterordnungen sind überhaupt nichts neues und das binäre System nicht alternativlos. Dass viele Menschen denken, Nichtbinarität sei etwas neues, hängt auch mit Kolonialismus und Eurozentrismus zusammen. Neu ist aber, dass es ein halbwegs anerkanntes Wort dafür gibt und dass immer mehr Menschen, die nicht-binär sind, auch öffentlich einfordern, korrekt angesprochen zu werden.
Ich selbst brauche den Begriff, um möglichst konkret zu benennen, wo es hakt: am binären System. Als ich im Jahr 2020 das Exposé eingereicht habe, wollte ich ein utopisches Buch schreiben. Einen Text, der in eine Zukunft verweist, in der Geschlecht keine Rolle mehr spielt. In der Zwischenzeit gab es reihenweise transfeindliche Gesetze in den USA und Europa. Und auch in Deutschland findet ein transfeindlicher medialer Diskurs statt, derzeit steht sogar eine transfeindliche Klausel im Selbstbestimmungsgesetz. Letztendlich musste ich also ein Buch schreiben, in dem es um Queer- und Transfeindlichkeit geht.
„Dass viele Menschen denken, Nichtbinarität sei etwas neues, hängt auch mit Kolonialismus und Eurozentrismus zusammen.“
Ist das nicht frustrierend? Dieser Backlash ist extrem frustrierend und es scheint, als würde es gerade nicht vorwärts gehen, sondern – im Gegenteil – als müssten wir alles Erkämpfte verteidigen. Ein Missverständnis zum Thema Geschlechtergerechtigkeit ist, dass alles immer linear und fortschrittlich verläuft. Oder dass Geschlecht schon längst egal wäre. Ich weiß, dass das nicht stimmt und hatte trotzdem nicht damit gerechnet, dass ich am Ende Angst hätte, das Buch unter meinem Namen zu veröffentlichen – nicht zuletzt, weil es ein öffentliches Outing ist und ich mich damit sehr angreifbar mache. Aber wir dürfen den Konservativen nicht den Diskurs überlassen.
Lydia Meyer: „Die Zukunft ist nicht binär“ – Lesung und Gespräch
Moderation: Kersty Grether & Sandra Grether
Musik: Masha The Rich Man, Frau Kraushaar, The Doctorella
8. Juni, ab 20:00 Uhr, Kantine am Berghain
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