Erik Leuthäuser veröffentlicht Album über Chemsex
Auf seinem ersten lupenreinen Pop-Album „Sucht“ besingt der 27-jährige Berliner Jazzmusiker Erik Leuthäuser die Höhenflüge und Abstürze eines Lebens mit Chemsex
Einige Leser*innen erinnern sich vielleicht an das große SIEGESSÄULE-Interview von 2020 mit dem seinerzeit 24-jährigen Hoffnungsträger unter den deutschen Jazzvokalisten. Unser damaliger Chefredakteur Jan Noll hatte kurz zuvor den zweiten Abend der eigens für Erik Leuthäuser geschaffenen Konzertreihe „Wünschen“ in der Bar jeder Vernunft besucht und war Zeuge einer besonderen Premiere geworden. Denn nachdem in der ersten Showhälfte vorwiegend Stücke des gleichnamigen Avant-Pop-Albums von 2018 erklangen, stellte Leuthäuser nach der Pause einen ganzen Schwung frisch komponierter Balladen vor, die alle das Thema „Chemsex“ behandelten. Lieder, die schonungslose Einblicke in durchlebte Krisensituationen gewährten, die Fans von Owen Pallett oder des jungen Rufus Wainwright gewohnt sein mögen, in deutscher Sprache aber Seltenheitswert haben.
Bis sich eine weitere Gelegenheit bot, Leuthäusers mal anrührend offene Hilferufe, mal sezierende Selbstbetrachtungen im gleichen Rahmen zu erleben, sollte über ein Jahr verstreichen. Doch dafür wurde die dritte „Wünschen“-Show 2021 mit einem siebenköpfigen „Large Ensemble“ (inklusive Streicherinnentrio) um die Pianistin Julia Kadel ein musikalischer Triumph, der noch lange nachhallte. Seither sind zweieinhalb Jahre vergangen. Leuthäuser veröffentlichte mit „In the Land of Kent Carlson“ und „In The Land of Ronny Whyte“ zwei CDs mit Interpretationen geschätzter queerer Komponisten, war musizierender Mitakteur in der Choreografie „Aus/Gefuchst“ am Schöneberger „FELD-Theater für junges Publikum“, gab Unterricht in Osnabrück und Kathmandu und hat die im vergangenen Jahr mit dem Deutschen Jazzpreis ausgezeichnete Plattform „Queer Cheer“ mitbegründet, die sich für Sichtbarkeit von und Safe Spaces für LGBTIQ*-Menschen in der Jazzwelt einsetzt.
Pornokarriere bei OnlyFans
Doch am meisten Aufmerksamkeit bescherte ihm ein Interview im September 2022 in der Berliner Zeitung, in dem er über die Gemeinsamkeiten von anonymen Stelldicheins und improvisiertem Jazz sinnierte und seine auf OnlyFans eingestellten Pornos nicht nur als lukrative Möglichkeit beschrieb, auch ohne Meth sexpositiv zu leben, sondern als Mut machendes Mittel, verinnerlichte Scham vor queerem Sex abzubauen. Manche*r OF-Abonnent*in hätte dadurch auch seine Musik entdeckt, sagte Leuthäuser. Den 2021/22 entstandenen Aufnahmen zur Chemsex-Thematik, die nun unter dem Albumtitel „Sucht“ erscheinen, ist zu wünschen, dass sie die Herzen vieler Hörer*innen erreichen. Denn die u. a. mit der Queer-Cheer-Kollegin Julia Kadel und dem Co-Songwriter Dexter Francis Mason eingespielten Stücke gehören zu den eingängigsten Pop-Songs, die je unter Leuthäusers Namen erschienen sind.
Während auf „Wünschen“ einige prominente Jazz-Solisten aus der (Groß-)Vätergeneration manch lyrisches und rhythmisches Detail übertönten, atmen vor allem die von Dexter produzierten Tracks eine erfrischende Transparenz, wie sie besonders in den knapp gehaltenen E-Piano-Akzenten in „Zurück“ (ergänzt um neckische Handclaps) und in „Labor“ zur Geltung kommt – Letzteres natürlich eine Hommage an einen umfunktionierten Kohlenkeller in Friedrichshain, die aber (einmal mehr) im Resümee mündet, dass aller anonyme Genuss die Vertrautheit mit dem Lebenspartner nicht aufzuwiegen vermag.
Manch minimalistische Ambient-Pop-Arrangements offenbaren allerdings auch grammatikalische Freiheiten, die sich nur schwer schönhören lassen: „Drum weg mit dem Selbstmitleid/So, wie du bist, sei es dir verzeiht“, heißt es im ansonsten gelungenen Prefab-Sprout-Pastiche „Grund“. Da wäre Leuthäusers Konzeptalbum zu wünschen gewesen, dass er sich neben all den hochkarätigen Instrumentalist*innen auch behutsamere Lektor*innen mit ins Boot geholt hätte. Doch das ändert nichts am Eindruck, dass Leuthäuser mit dem Eröffnungsstück „Schiff ohne Kapitän“ eine ergreifende Beschreibung eines Rückfalls und mit „Optional“ eine berührende Coming-of-Age-Geschichte geglückt ist, die meisterhaft den Bogen von der Kindheit in einer sächsischen Kleinstadt zum großstädtischen Erwachsenen schlägt.
Erik Leuthäuser: Sucht (Fun In The Chruch/Bertus)
ab 26.04. erhältlich
Erik Leuthäuser live in Berlin:
16.05., 20:00, A-Trane,
24.05., 20:00, Kult-Raum Kleinmachnow,
01.06., 20:30, Donau115
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