Ein Jahr nach dem 7. Oktober: „Wir brauchen eine breite Friedensbewegung!“
Nichts hat die internationale LGBTIQ*-Bewegung so sehr gespalten wie der anhaltende Krieg in Gaza, der genau vor einem Jahr begann. Aktivist Uri Weltmann von der Graswurzelbewegung Standing Together aus Israel skizziert einen möglichen Weg für eine Zukunft nach dem Krieg und argumentiert: „Es ist nicht möglich, einfach zur Realität vor dem Krieg zurückkehren. Wir müssen den Weg in Richtung Frieden gehen“
Ein Jahr ist nun seit dem 7. Oktober 2023 vergangen, an dem die Hamas zivile Städte und Dörfer in Israel nahe des Gazastreifens brutal angriff und unsere Regierung mit einem noch brutaleren Krieg antwortete, der unser Land bis heute in immer tieferes Leid und Elend stürzt. Der Gazastreifen hat mehr als 40.000 Todesopfer zu verzeichnen – darunter mehr als 15.000 Kinder – und zusätzlich zeichnet sich aufgrund mangelnder Lebensmittel und medizinischer Grundversorgung eine humanitäre Katastrophe ab.
Innerhalb Israels müssen Hundertausende Zivilist*innen entlang der südlichen und nördlichen Grenze wegen kontinuierlicher Angriffe der Hamas und der Hisbollah evakuiert werden und während der Krieg fortgesetzt wird, steigt die Unzufriedenheit mit der Regierung von Premierminister Netanjahu. Meinungsumfragen zeigen, dass nun die Mehrheit ein Waffenstillstandsabkommen befürwortet, das zur Befreiung der Geiseln im Austausch mit palästinensischen Gefangenen führen und den Krieg beenden würde.
Ein Geiselabkommen reicht nicht aus
Standing Together – die führende Graswurzelbewegung, in der sich jüdische und palästinensische Bürger*innen Israels organisieren und die zum Engagement für Frieden, Gleichheit und soziale Gerechtigkeit mobilisiert – beteiligt sich regelmäßig an den Anti-Netanjahu-Protesten auf den Straßen. Jedes Wochenende demonstrieren Zehntausende in den Großstädten Israels für ein Geiselabkommen. Wir machen deutlich, dass ein solches nur durch die Beendigung des Krieges erreicht werden kann, durch den Abzug der israelischen Armee aus dem Gazastreifen und die Einstellung des Ermordens Unschuldiger.
Aber nur ein Geiselabkommen zu fordern, um den Krieg zu beenden, ist – wenn auch dringend und notwendig – nicht ausreichend. Seit zwanzig Jahren dominiert in der israelischen Politik das Paradigma des „Konfliktmanagements“, das sowohl von Mitte-rechts als auch von Mitte-links unterstützt wird. Nicht nur Netanjahu, sondern auch diejenigen, die ihn ablösen wollen, scheinen zu glauben, dass die Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts keine dringende Notwendigkeit sei und dass die jahrzehntelange Militärherrschaft über Millionen in den besetzten Gebieten lebende Palästinenser*innen, die keine Staatsbürgerschaft haben und denen grundlegende Rechte verwehrt werden, auf unbestimmte Zeit aufrechterhalten werden könne.
„Es leben Millionen Palästinenser*innen in diesem Land. Keine*r von ihnen wird es verlassen. Und es leben Millionen von Juden und Jüdinnen in diesem Land. Sie werden genausowenig das Land verlassen.“
Dass dies eine Fehlannahme war, zeigte sich nach dem 7. Oktober. Der israelisch-palästinensische Konflikt kann nicht „gemanagt“ werden. Das ist lediglich ein Rezept für mehr 7. Oktober, für mehr Kriege, Aggressionen und Eskalationen, die wiederum Ursache für den Verlust des Lebens Unschuldiger sein werden. Was vielmehr anerkannt werden muss, ist folgende grundlegende Tatsache: Es leben Millionen Palästinenser*innen in diesem Land. Keine*r von ihnen wird es verlassen. Und es leben Millionen von Juden und Jüdinnen in diesem Land. Sie werden genausowenig das Land verlassen. Die einzige Hoffnung auf Sicherheit besteht in einem israelisch-palästinensischen Friedensabkommen, das die Besatzung beendet, dem palästinensischen Volk sein Recht auf Selbstbestimmung in einem unabhängigen Staat neben Israel gewährt und das Recht beider Völker auf Freiheit, Gerechtigkeit und Unabhängigkeit respektiert. Diese Wahrheit wird vom politischen Establishment infrage gestellt, obwohl sie sehr einfach zu begreifen ist.
„Die einzige Hoffnung auf Sicherheit besteht in einem israelisch-palästinensischen Friedensabkommen.“
Erst kürzlich hat die Knesset (das israelische Parlament) eine Resolution verabschiedet, die sich gegen die Gründung eines palästinensischen Staates richtet. Diese Resolution wurde nicht nur von Mitgliedern der Rechts-außen-Koalition Netanjahus unterstützt, sondern auch von Angehörigen der Oppositionsparteien. Eine Mehrheit von 68 von insgesamt 120 Mitgliedern der Knesset haben ihr zugestimmt. Unter ihnen die zentristische Partei des früheren Premierministers Yair Lapid und sogar Benny Gantz, früherer Verteidigungsminister, dessen Partei in den Umfragen zulegt und der als nächster Premierminister gehandelt wird. Nur neun Mitglieder haben gegen die Resolution gestimmt, was zeigt, dass das politische Establishment Israels immer noch hofft, zum status quo ante bellum zurückkehren zu können, der den Palästinenser*innen ihren Staat versagt.
Um die Umstände noch komplizierter zu machen, lehnt auch ein Teil der palästinensischen Führung in den besetzten Gebieten das legitime Recht beider Völker auf einen Staat ab. Während die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) im Westjordanland dazu bereit ist, mit Israel zu verhandeln, um palästinensische Unabhängigkeit zu erlangen, hat die Hamas-Führung im Gazastreifen die gewaltvolle Vision, Zivilist*innen in Israel ins Visier zu nehmen, in der Hoffnung, Jüdinnen und Juden aus dem Land zu vertreiben.
„Wo gekämpft wird, besteht Hoffnung.“
Deshalb müssen wir nun die Vorstellung infrage stellen, dass wir ohne weiteres zum Vorkriegszustand zurückkehren und „den Konflikt managen“ können. Sie ist ein Rezept für weitere Katastrophen, was die Politiker*innen immer noch nicht anerkennen wollen. Wir brauchen eine breite Friedensbewegung, um deren Selbstgefälligkeit herauszufordern. Diese Bewegung muss die Idee popularisieren, dass der einzige Weg, die Zukunft und das Recht beider Völker zu sichern, in einem israelisch-palästinensischen Frieden und dem Ende der Besatzung besteht. Auf Grundlage dieser Perspektive arbeiten wir von Standing Together in unserer Gesellschaft daran, Menschen unterschiedlicher Communitys zu organisieren, um unsere gemeinsamen Interessen zu vertreten und um eine neue Mehrheit aufzubauen, die progressive soziale und politische Transformationen in unserem Land ermöglicht. Die Arbeit unserer Bewegung folgt dem Motto: „Wo gekämpft wird, besteht Hoffnung.“
Standing Together
Homepage: standing-together.org
Instagram: @standing.together.english
Ihr findet die englische Originalfassung des Artikels auf Seite 22 des aktuellen Hefts in der Rubrik „Zündstoffe“.
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