Queers & Karriere

Diversity in Zeiten von Fachkräftemangel

15. Feb. 2023 Interview: Andreas Scholz
Bild: LINKEDIN
Stuart Bruce Cameron rief Europas größte Karrieremesse für LGBTIQ* ins Leben

In Deutschland fehlt es an Personal. Das stellt Unternehmen vor enorme Herausforderungen. Können Arbeitnehmer*innen unter diesen Bedingungen höhere Ansprüche an ihren Job stellen? Und was bedeutet diese Entwicklung für das Thema Diversity? Wir fragten nach bei Stuart Bruce Cameron, dem Kopf hinter der queeren Jobmesse „Sticks & Stones“

Immer mehr Arbeitgeber*innen haben Probleme, ihre offenen Stellen zu besetzen. Was hat den Personalmangel deiner Einschätzung nach verursacht?

Grundsätzlich lässt sich der Personalmangel nicht auf einen Auslöser allein zurückführen. In Deutschland – und auch anderswo – wird er durch verschiedene Faktoren verursacht. Dazu zählt zum Beispiel eine hohe Nachfrage nach Arbeitskräften in bestimmten Branchen. Gleichzeitig gibt es einen Mangel an qualifizierten Bewerber*innen, die den gewünschten Profilen entsprechen.

Welche Branchen sind das?

Dem Deutschen Industrie- und Handelskammertag folgend gibt es in Deutschland besonders in fünf Bereichen Schwierigkeiten, offene Stellen zu besetzen. An erster Stelle steht hier der Gesundheits- und Pflegesektor. Hier gibt es sowohl einen Mangel an medizinischem Personal wie Ärzt*innen und Pflegekräften als auch an Hilfskräften, etwa Reinigungskräften oder Küchenhilfen. Der technische Bereich sucht ebenfalls oft vergeblich nach qualifiziertem Personal. Besonders hoch ist der Bedarf dabei an Ingenieur*innen, Techniker*innen und anderen Fachkräften in Branchen wie etwa der Automobilindustrie, der Elektrotechnik oder der Maschinenbauindustrie. Seit Jahren wird darüber berichtet, Besserung scheint allerdings beim Handwerk noch immer nicht in Sicht. In vielen handwerklichen Berufen, wie etwa Schreiner*innen, Elektriker*innen oder Dachdecker*innen, gibt es einen drastischen Mangel an qualifizierten Fachkräften und Nachwuchs. Und zuletzt folgt die IT-Branche – ein Dauerbrenner eigentlich. Dort fehlt es häufig an Programmierer*innen, Systemadministrator*innen und anderen Fachkräften.

Welche Rolle spielte dabei die Pandemie?

Selbstverständlich hat die globale Pandemie auch auf dem Jobmarkt einiges in Bewegung gebracht und verändert. Stepstone zählt zu den größten Veränderungen auch ganz überraschende Punkte. So hat die Zahl der angebotenen Jobs in Deutschland seit letztem Sommer kontinuierlich zugenommen und lag zuletzt mehr als ein Drittel über dem Vor-Pandemie-Niveau. Gleichzeitig haben in der Pandemie viele Angestellte ihre Zufriedenheit mit dem Pandemie-Management ihrer Arbeitgeber*innen verloren und suchen deshalb verstärkt nach einem anderen Job. Die Suchanfragen nach Jobs mit Remote-Option (z. B. Home Office) haben sich um mehr als 100 Prozent erhöht. Eine weitere Veränderung darf vor allem jungen Menschen Hoffnung machen: Es gibt seit dem Ausbruch der Pandemie eine Zunahme von Jobangeboten für Berufseinsteiger*innen und Quereinsteigende.

Können Arbeitnehmer*innen heute mit anderen Ansprüchen und Forderungen an Arbeitgeber*innen herantreten als noch vor einigen Jahren?

Ja, absolut! Neben gestiegenen Gehaltsforderungen rückt hier verstärkt die Work-Life-Balance in den Mittelpunkt. Das Fehlen qualifizierter Fachkräfte heißt für Arbeitgebende auch, dass sie teilweise ihre Anforderungen an Bewerber*innen senken müssen. Dadurch haben weniger qualifizierte Bewerber*innen eine höhere Chance, einen Job zu bekommen. Gerade im IT-Bereich kann man mit noch relativ geringen Kenntnissen bereits gut bezahlte Jobs bekommen, weil es massiv an Bewerber*innen fehlt.

Inwieweit hat das Auswirkungen auf das Thema Diversity? Ist es ein Vorteil für Arbeitgeber*innen, wenn sie ein diverses Arbeitsumfeld anbieten können?

Ein diverses und wertschätzendes Arbeitsumfeld macht Arbeitgebende besonders attraktiv. Denn es steht für ein Gefühl der Repräsentation, der Zugehörigkeit und Zufriedenheit. Für LGBTIQ* ist dies von großer Bedeutung. Laut einer Studie der Boston Consulting Group rangiert die LGBTIQ*-Freundlichkeit der Arbeitgebenden auf Platz 2 der wichtigsten Faktoren, die die Jobwahl beeinflussen. Und damit direkt hinter dem Einstiegsgehalt.

Der Arbeitsminister sagte Anfang des Jahres: „Die Mentalität, dass man Beschäftigte über 60 zum alten Eisen packt, können wir uns ökonomisch nicht mehr leisten.“ Ist einer der Effekte der schwierigen Situation am Arbeitsmarkt, dass Diskriminierungsformen wie z. B. aufgrund des Alters abgebaut werden?

Es ist durchaus möglich, dass die derzeitige Situation am Arbeitsmarkt dazu beiträgt, dass Diskriminierung in einzelnen Bereichen abgebaut wird. Die Aussage des Arbeitsministers deutet dies an. Daraus würde ich aber keinen allgemeinen Trend ablesen. Man kann nicht pauschal sagen, dass dieser Effekt auf alle Unternehmen zutrifft und auf alle Formen der Diskriminierung. Da bin ich skeptisch und habe zudem gelernt, dass der Abbau von Diskriminierung ein bisweilen schleppender Prozess ist.

Was bedeutet die Situation auf dem Arbeitsmarkt für die LGBTIQ*-Karrieremesse „STICKS & STONES“?

Wir stellen in den letzten Jahren fest, dass es ein sehr großes Interesse von Arbeitgebenden an unserer Messe gibt. Die diesjährige STICKS & STONES in Berlin am 1. Juli ist schon jetzt fast ausgebucht. Das haben wir noch nie zuvor so erlebt. Aber auch das Interesse an der neuen STICKS & STONES in Köln 2024 ist sehr hoch. Das Bewusstsein für die Wertschätzung von LGBTIQ* am Arbeitsplatz wächst und gewinnt an Stellenwert.

Was hältst du für gute Konzepte, um dem Personalmangel zu begegnen?

Allgemein kann man sagen, dass es für Mitarbeitende in den letzten Jahren immer wichtiger wurde, einen Sinn in ihrer Arbeit zu finden. Daneben ist ihnen zunehmend wichtig, eine Arbeitskultur vorzufinden, die nicht nur LGBTIQ* akzeptiert, sondern sie auch schätzt und sie nicht dazu zwingt, sich zu verstecken. Das ist natürlich nicht die einzige Antwort auf die Veränderungen und Herausforderungen auf dem Arbeitsmarkt. Wenn Gehälter ungerecht sind, der Arbeitsdruck zu hoch oder die mentale Gesundheit der Mitarbeiter*innen vernachlässigt wird, bringt auch das beste Diversity Management nichts. Ein Schlüsselwort ist zudem Flexibilität. Jobsharing, das Arbeiten im Homeoffice und andere flexible Arbeitsmodelle funktionieren wunderbar, um den individuellen Bedürfnissen von Mitarbeitenden gerecht zu werden und sie zu locken. Und dann gibt es natürlich noch andere Ansätze, die etwa im Pflegebereich schon verstärkt genutzt werden: das Anwerben von qualifizierten Fachkräften aus dem Ausland oder aus dem EU-Raum. Um abschließend noch einmal auf die Worte des Arbeitsministers zurückzukommen: Maßnahmen, um die Lebensarbeitszeit von älteren Mitarbeitenden durch berufliche Weiterbildung oder Altersteilzeitmodelle zu verlängern, sind auf kurze oder lange Sicht unausweichlich. Die erfolgversprechende Lösung ist aus meiner Sicht eine, die viele verschiedene dieser Ansätze und Konzepte verbindet.

Sticks & Stones Berlin

01.07.23, 10:00–17:00,

Verti Music Hall

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