Digitale Sexarbeiter im Visier des Jugendschutzes
Die Sexworker Tim und Julian aus Berlin stellen pornografische Videos ins Internet. Sie wollen jugendschutzkonform arbeiten, doch aufgrund mangelnder Rechtsgrundlage und repressiver Maßnahmen wird ihnen genau das schwer gemacht. SIEGESSÄULE-Autor Sascha Osmialowski hat sich ihren Fall genauer angeschaut
Tim und Julian sind ein schwules Paar aus Berlin. Sie arbeiten als digitale Sexworker, das heißt, sie produzieren erotische und pornografische Inhalte und stellen sie ins Internet. Dass sie anscheinend gegen das deutsche Jugendschutzgesetz verstoßen, obwohl sie sich an die Allgemeinen Geschäftsbedingungen der sozialen Netzwerke halten, die sie zur Veröffentlichung nutzen, war ihnen nicht bewusst. Neuerdings wird auch noch künstliche Intelligenz eingesetzt, um vermeintlich verdächtige Inhalte und eventuelle Verstöße ausfindig zu machen. Vom Dilemma digitaler Sexarbeiter im deutschen Jugendschutzsystem
Als Tim und Julian im Dezember 2022 eine Anzeige der Landesmedienanstalt Nordrhein-Westfalen ins Haus flatterte, waren sie geschockt. Ihnen wurde vorgeworfen, auf ihrem Twitter-Account @tim_blesh pornografische Schriften zu verbreiten, ohne sicherzustellen, dass Minderjährige darauf keinen Zugriff haben. Ein Vergehen nach Paragraf 184 des Strafgesetzbuches (StGB). Es liefen polizeiliche Ermittlungen. Die Frist, um zum Vorwurf Stellung zu nehmen: 14 Tage.
Für die Medienaufsicht sind in Deutschland die 14 Landesmedienanstalten (LMA) zuständig. Das gilt für Rundfunk und Fernsehen und auch für Telemedien, sprich: das Internet. Kein Zugang zu sozialen Netzwerken ohne harte Alterskontrolle, also Verifikation durch den Ausweis, eine biometrische Erkennung oder ähnliche Verfahren – das wäre dem deutschen Jugendschutz am liebsten. Nur ist das bei den großen internationalen und kostenlosen Netzwerken wie Facebook, Instagram und Co. nicht durchsetzbar.
„Verifikation durch den Ausweis, eine biometrische Erkennung oder ähnliche Verfahren – das wäre dem deutschen Jugendschutz am liebsten.“
Viele Anbieter haben eigene Kontrollsysteme und verbieten das Posten nackter oder erotischer Inhalte ohnehin. X (bis Juli 2023 noch Twitter) ist in seinen allgemeinen Geschäftsbedingungen nicht so streng und wird daher schon lange von Pornoschaffenden intensiv als Werbeplattform genutzt. Hier finden sich besonders viele kostenfreie sexuelle und auch pornografische Inhalte, die dann oft auf Seiten verweisen, mit denen die Profis mit ihrem Content Geld verdienen können: OnlyFans, Justforfans, Chaturbate, pornhub, xHamster ... das Angebot ist quasi unüberschaubar.
Auch Erotikdarsteller*innen und Sexarbeiter*innen nutzen ihre Accounts auf X intensiv zur Bewerbung ihrer Dienstleistungen. Das US-Unternehmen X Corp. definiert pornografische Inhalte als „Inhalte für Erwachsene“. Sie sind dort unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt: Um Ü18-Inhalte auf einem X-Account posten zu können, müssen sie als „sensibel“ markiert werden. Zu sehen bekommen diese Tweets nur die Personen, die dem Anzeigen von sensiblen Inhalten in ihrem Account zugestimmt haben. Eine Konsensregelung unter User*innen. Das Problem für die deutschen Gesetzeshüter*innen der Medienanstalten: die mangelhafte Alterskontrolle von X beim Einrichten eines Accounts. Es findet keine nach deutschem Recht gültige Altersprüfung statt.
Deutsche Gründlichkeit beißt auf Granit
Digitale Sexarbeit steht bei den deutschen Landesmedienanstalten auf dem Prüfstand. Anscheinend beißen die Jugendschützer bei den internationalen Betreibern der sozialen Netzwerke mit ihren Forderungen, ein sicheres Altersverifizierungssystem (AVS) durchzusetzen, auf Granit. Also rücken sie vermehrt gegen die deutschen Content-Anbieter selbst vor. Werden solche User angezeigt, bleibt ihnen oft nichts anderes übrig, als den Account zu löschen. Für Menschen, die mit sexuellen Dienstleistungen ihr Geld verdienen, ist das bitter. Wenn ihnen die Werbeplattform entzogen wird, verlieren sie Reichweite, Kund*innen und Einkommen.
„Wie sollen einzelne Unternehmer*innen schaffen, was schon den großen staatlichen Landesmedienanstalten nicht gelingt? Paradox.“
So erging es auch Tim und Julian. Sie nahmen sich einen Anwalt – auch um zu verstehen, was genau sie falsch gemacht hatten. Auf Twitter hatten sie ihren Content als „Ü18“ gekennzeichnet – mehr konnten sie als User in Bezug auf den Jugendschutz nicht tun. Doch das reicht den deutschen Landesmedienanstalten eben nicht. Egal woher ein Anbieter stammt: Er hat Sorge dafür zu tragen, dass in Deutschland der Jugendschutz gewahrt bleibt. Ergo: Jede einzelne pornoschaffende Person trägt die (alleinige) Verantwortung, eine gültige Altersverifizierung durchzusetzen. Nur: Wie sollen einzelne Unternehmer*innen schaffen, was schon den großen staatlichen Landesmedienanstalten nicht gelingt? Paradox.
Fazit im Fall von Julian und Tim: Nach der Anhörung im Ermittlungsverfahren wurde der Content entfernt und das Verfahren gegen Zahlung von 300 Euro eingestellt.
„Wir wollen keine Gesetze brechen“
Tim und Julian sind enttäuscht und wollen das nicht kommentarlos hinnehmen: „Wir und viele andere Pornoschaffende halten Kontrollmaßnahmen zur Überwachung des Internets für wichtig. Wir wollen keine Gesetze brechen, Kinder und Jugendliche gefährden oder (unwissentlich) etwas tun, was eine andere Person schädigt. Wir wollen lediglich Lust an Sex und Spaß an nackten zwischenmenschlichen Begegnungen fördern (...) und damit Geld verdienen können, ohne Angst vor staatlichen Repressionen oder gesellschaftlichem Stigma haben zu müssen.“ Aus ihrer Sicht sollten die Landesmedienanstalten die Plattformanbieter stärker in die Pflicht nehmen. Es könne nicht sein, dass sich die großen Unternehmen aus der Affäre ziehen und die Verantwortung allein den Pornoschaffenden und Sexarbeiter*innen überlassen, die den Content hochladen.
Sie wünschen sich, dass auch von staatlicher Seite Diskurse über sexpositive Lösungen angeregt werden. Tim und Julian haben ihre Bedenken öffentlich gemacht und sind auf viele andere Pornoschaffende und Sexarbeiter*innen gestoßen, denen es ähnlich geht. Die Kreatoren der Szene erreicht eine Welle von Anzeigen. Dabei können die Ergebnisse der Ermittlungsverfahren sehr unterschiedlich ausfallen. Solche juristischen Probleme wie in Deutschland haben digitale Sexarbeiter*innen in anderen Ländern anscheinend nicht. Auswandern als Alternative und einzig praktikable Lösung?
KI als Wächterin über mögliche Verstöße?
Möglicher Grund für das erhöhte Anzeigenaufkommen: der Einsatz von künstlicher Intelligenz. Eine wichtige Rolle für die deutsche Medienaufsicht im Netz spielt das Tool KIVI. Die KI-gesteuerte Software filtert verdächtige Inhalte aus öffentlich zugänglichen Websites, auch in sozialen Netzwerken. Dabei geht es nicht allein um Pornografie, sondern auch um Verstöße gegen die Menschenwürde, Rassismus und andere Bereiche. Der Direktor der Landesmedienanstalt NRW, Dr. Tobias Schmidt, sieht das Monitoring per Software als „Quantensprung in der Effizienz“. Die Masse an Rechtsverstößen im Internet sei durch reale Mitarbeiter*innen kaum noch zu bewältigen.
„Wir würden gern korrekt und jugendschutzkonform arbeiten, aber niemand sagt konkret, wie das funktionieren kann.“
Tim spricht aus, was viele deutsche Sexarbeiter*innen denken: „Wir würden gern korrekt und jugendschutzkonform arbeiten, aber niemand sagt konkret, wie das funktionieren kann. Letztendlich gibt es aktuell keine gesicherte Rechtsgrundlage für unsere Tätigkeit.“ Im Grunde können digitale Pornoschaffende von Deutschland aus ihre Arbeit nur dann ausüben, wenn sie im Netz nicht beworben wird. Ein Dilemma, für das keine praktikable Lösung in Reichweite scheint. Falls eine Lösung seitens des Gesetzgebers überhaupt gewollt ist.
Wer von einer Anzeige betroffen ist und Hilfe und weitere Informationen benötigt, kann mit Tim und Julian über den Instagram-Account bleshmedia Kontakt aufnehmen.
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