Erlebnisbericht

Die Schlange am Berghain: Survival of the fittest

14. Apr. 2023 Volker Surmann

Bei der Snax-Party am Osterwochenende bildete sich eine riesige Schlange vor dem Berghain. Zwischenzeitlich geriet die Situation außer Kontrolle. Autor Volker Surmann war dabei und fragt, warum sich Clubgänger*innen so etwas eigentlich antun

Ich habe in einer Schlange gestanden. Nun, das passiert allenthalben. Das Nachtleben von Berlin ist ohne Schlange nicht mehr denkbar. Die Schlange am Berghain ist legendär, inzwischen beschäftigt sie eine ganz eigene Infrastruktur zur Versorgung der Wartenden, es gibt Apps, die anzeigen, wie lang sie gerade ist, wahrscheinlich kann man sie vom Weltraum aus sehen und die Berghain-Betreiber sind sicher auch noch stolz drauf.

Jeder Club, der was auf sich hält, sorgt inzwischen für Schlangenbildung. Wann haben wir angefangen, das hinzunehmen? Wo keine Schlange ist, da stimmt was nicht, denken wir. Und so stellen sich Menschen stundenlang geduldig an, die im Aldi „Zweite Kasse!“ brüllen, sobald mehr als drei Leute vor ihnen am Band stehen.

Es ist Ostersamstag und zu den beliebtesten Events am Oster-Wochenende zählt die SNAX-Party im gesamten Berghain-Komplex, geschätzt 4.000 Menschen zieht sie an. Wir sprechen also von einer Berghainschlange extralarge. Das ist sicher eine logistische Herausforderung für jede*n Partyveranstalter*in. Aber auch keine unlösbare, wie zig Konzert- und Sporthallen tagtäglich unter Beweis stellen. 

Bescheuerte Durchhaltepsychologie

Ich bin mit Freunden verabredet, wir treffen uns früh. Um 20:40 stellen wir uns an und stehen schon hinter dem Kiosk. Ich frage mich, ob „der Kiosk“ noch einen anderen Namen hat als „Kiosk an der Berghainschlange“. Kurz darauf reicht die Schlange schon bis zur Metro-Abzweigung. Von dort sieht man den Berghain-Komplex immerhin noch am Horizont.

Erst geht es zügig vor. An den Zäunen teilt sich die Schlange in Abendkasse, Gästeliste und Panoramabar; die längste, die Abendkassenschlange, wird geführt über eine benachbarte Brache, durch ein drei Meter breites Tor, am Ende dann durch eine weitere, nur knapp drei Meter breite Lücke in einem Zaun. Von dort geht es weiter zum Garderobenkomplex des Laboratory-Clubs. Nicht ganz zwei Stunden brauchen wir bis zur Brache. Dort sagen wir uns: „Jetzt sind es ja nur noch ein paar Meter, da vorne ist doch schon das Nadelör!“ Diese Sichtweite ist der Grund, wieso man nicht aufgibt. Sie stiftet Hoffnung. Man ist so nah dran, jetzt kann man doch nicht aufgeben, bestärkt man sich gegenseitig.

Was für eine bescheuerte Durchhaltepsychologie! Aber wer will nach Ostern gefragt werden, wie er das Wochenende verbracht hat und antworten: „Ach, weißt du, ich hab vier Stunden sinnlos in einer Schlange gestanden, bin dann ich nach Hause gegangen und hab Netflix geguckt.“ Nein, man sagt sich und einander: „Jetzt sind es doch nur noch zwanzig Reihen, jetzt nur noch zehn“ und verkennt, dass diese Reihen x-mal breiter sind als das Nadelör; das kennen wir aus jedem Autobahnstau, wo es von drei Spuren auf eine geht.

Und wie ein Stau manchmal banale Ursachen hat, sind es hier zwei Türsteher, deren einzige Aufgabe es ist, Klebepunkte für die Handykameras an die Wartenden zu verteilen. Dann winken sie Menschen weiter Richtung Einlasstür, das aber mit der Ruhe vogonischer Zollbeamter, sprich quälend langsam: zwei bis drei Leute pro Minute – bei über Tausend Wartenden. Jedes „Es sind doch nur noch fünf Reihen!“ bedeutet also eine geschlagene weitere Stunde Wartezeit.

Gefährliche Hindernisse

Das Problem ist: Wenn man auf einen Flaschenhals dermaßen den Daumen hält, dann steigt der Druck. Die Ungeduld wächst und mit ihr der Druck von hinten. Nach spätestens drei Stunden Warterei schlägt die letzte Vorfreude in Genervtheit und Aggressivität um. Die Warteschlange verdichtet sich, bis die menschliche Physiologie ihr Grenzen setzt. Da hilft auch nicht etwas Flatterband, das wohl mal einen Laufweg markieren sollte; das verschwand als erstes zwischen den Füßen.

Ich kann mich nicht mehr bewegen, werde nur noch eingequetscht nach vorne geschoben. Ich bin knapp 1,90 groß und ein 85-Kilo-Mann, aber selbst ich stehe zweitweise nicht mehr auf meinen eigenen Füßen. Das ist der Moment, wo mir mulmig wird. Spätestens, als meine Füße mitten im Pulk gegen Hindernisse stoßen. Zwei Betonklötze, mit denen man Bauzäune aufstellt, liegen unsichtbar zwischen unseren Füßen. Rechts plötzlich ein hüfthoher Reisighaufen.

Einer aus unserer Gruppe verabschiedet sich mit knappen Worten, Panikattacke, er kämpft sich raus. Und ich rede da von einem stattlichen Zwei-Meter-Kerl, den sonst wenig aus der Ruhe bringt. Stichwort Panik: Massenpaniken brauchen ja keinen großen Auslöser. Würde in diese Menschenmasse hier plötzlich eine panikartige Bewegung kommen, gäbe es wahrscheinlich Tote – spätestens, wenn einer über die Betonklötze stolperte, hätte er keine Chance mehr. 

Eine Fläche, über die in dunkler Nacht Tausende von Menschen laufen sollen, nicht vorher von gefährlichen Hindernissen freizuräumen: Wie kann man das versäumen?! „Hört doch mal auf zu drücken!“, rufen die Einlasser ein ums andere Mal, aber was hilft diese Aufforderung, wenn sie nur die vordersten Reihen hören können? Der Druck kommt von hinten! Einfache Hilfsmittel wie ein Megafon, um sich auch dort verständlich zu machen – Fehlanzeige. Sich einfach mal etwas beeilen, um den Druck aus dem Kessel zu nehmen? Fehlanzeige. Menschen an den leeren Gästelisten-Eingang schicken? Ganz sporadisch. Der Politik des Hauses entsprechend war das Berghain auf telefonische Anfrage von SIEGESSÄULE hin zu einer Stellungnahme nicht bereit.

Fünf Stunden Wartezeit

Wieso bin ich nicht gegangen?, könnte man nun mit etwas Abstand fragen. Gute Frage, ich stelle sie mir selbst. Noch nie habe ich irgendwo so lange angestanden. Fünf Stunden wurden es am Ende. Es war eine Mischung aus „Ich kam einfach nicht raus“, „Ich bin doch schon so weit gekommen“, Peergroup-Bestätigung und einer gehörigen Portion situativer Dummheit.

Wir dürfen niemals vergessen, dass solch eine Schlangenbildung nicht gottgegeben ist. Sie ist gemacht. Wir stehen da, weil die Veranstaltenden es vermutlich so wollen. Partyschlangen sollen einem das Gefühl geben, zu den Auserwählten zu gehören. Schlangen sollen animieren, es bei der Party richtig krachen zu lassen, schließlich hat man schon Stunden gebraucht, um reinzukommen und dann auch noch 40€ Eintritt auf den Tisch gelegt. Schlangen sollen dafür sorgen, dass nur die Partywütigsten auf das Event kommen – und maximal konsumieren. In der Schlange soll sich die Spreu vom Weizen trennen, den Rest macht der Türsteher.

Im Grunde ist solch eine Schlange entwürdigend, denn sie ist Darwinismus in Reinform, survival of the fittest. Selten ist es mir so gewahr worden wie an diesem Ostersamstag, diese Demütigung trug ich die ganze Party mit mir rum zusammen mit der Frage: Wieso machen wir das eigentlich mit?

Bild: Volker Surmann

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