Der SIEGESSÄULE-Jahresrückblick 2021

7. Jan. 2022
Bild: Brigitte Dummer / Industrial Light & Magic

Keine Frage, 2021 war auf vielen verschiedenen Ebenen eine Herausforderung. Dennoch gab es auch hier und da kleine Lichtblicke, die uns allen Hoffnung schenkten. Die Redaktion blickt zurück auf die wichtigsten Themen eines turbulenten Jahres

Berliner Pride-Sommer

So einen vielfältigen Pride-Sommer wie in diesem Jahr hat Berlin noch nicht erlebt. Auf den sich zäh über Monate hinwegziehenden Teil-Lockdown im Winter antwortete die Berliner Community nicht mit Cave-Syndrom, sondern ungeheurem Tatendrang. Deutlich zu spüren war der Wunsch, auch in Pandemie-Zeiten wieder sichtbarer zu werden, auf der Straße zusammenzukommen und Queerness zu feiern. Das Ergebnis: Zahlreiche Events abseits des großen Prides des CSD e. V., die ebenfalls regen Zulauf fanden – zum Beispiel der Trans* Pride, der Dyke* March, Marzahn Pride, FLINTA* Pride 36 oder der Anarchistische CSD.

Corona verursachte dabei nicht nur Probleme und Barrieren, sondern setzte auch jede Menge Kreativität frei. An vielen Orten in Deutschland, wie z. B. in Potsdam, radelten Fahrraddemos mit Pride-Flaggen durch die Stadt. Die Berliner Stern-Demo des CSD Berlin Pride machte aus der Not eine Tugend: Statt einer großen Parade zogen zeitgleich mehrere kleinere Demos durch die Stadt, die unterschiedliche Anliegen und Lebensrealitäten der Community abbildeten. Es wäre zu hoffen, dass die im Pride-Sommer 2021 freigesetzte Energie nicht als singuläres Ereignis verpufft, sondern einen Aufbruch markiert.

Bild: Sandro Halank, Wikimedia Commons CC BY-SA 4.0 Quelle
Unterzeichnung des Koalitionsvertrages der 20. Wahlperiode des Bundestages am 7. Dezember 2021

Superwahljahr

Puh. Was für ein Marathon. Und damit meinen wir nicht den Berlin-Marathon, der, ausgerechnet, am „Superwahltag“ quer durch die Stadt führte, Straßen versperrte (im wahrsten Sinne des Wortes dumm gelaufen): Der 26. September 2021 war nicht nur Datum für die Bundestagswahl, sondern auch für die Wahl eines neuen Berliner Senats. Außerdem stimmte an dem Tag eine Mehrheit der Berliner*innen für den Volksentscheid „Deutsche Wohnen & Co enteignen“. Was aus Letzterem wird, wissen wir noch nicht – zumal die nun Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) sich im Wahlkampf gegen Enteignungen ausgesprochen hatte. Ein schwieriger Start für die neue Rot-Grün-Rote Koalition in Berlin?

Kurios war im Zusammenhang der Wahlen auch: der Merkel-Hype kurz vor ihrem Abschied, der selbst einige Nichtkonservative plötzlich wie CDU-Fans aussehen ließ. Für berechtigte Freude hingegen sorgte der Koalitionsvertrag der Ampelparteien. Denn der geht auf zentrale Anliegen der queeren Community ein: vom Selbstbestimmungsgesetz über Regenbogenfamilien bis hin zum Schutz im Grundgesetz. Das muss jetzt allerdings – bitteschön – alles auch zeitnah umgesetzt werden.

Bild: SZ Magazin

#ActOut-Kampagne

„Wir sind hier und wir sind viele!“ Anfang Februar meldeten sich 185 LGBTIQ* Schauspieler*innen im SZ Magazin zu Wort. Im Manifest #ActOut outeten sie sich gemeinsam als schwule, lesbische, queere, nicht binäre und trans* Schauspieler*innen. Unter den Unterzeichnenden auch längst geoutete Promis wie Maren Kroymann oder Ulrike Folkerts. Mitten in der Flut von Corona-News sorgte die Aktion für Abwechslung in den Medien und erzielte eine große Resonanz – nicht nur positive, monierten einige doch eine angebliche Larmoyanz der Beteiligten. Queerness sei in der Branche doch eigentlich kein Problem. Dass dem nicht so ist, zeigte das Beispiel der „Tatort“-Schauspielerin Karin Hanczewski: Ein paar Monate nach ihrem Coming-out als Lesbe im Rahmen von #ActOut beklagte sie, dass sie seitdem nur noch lesbische Rollen angeboten bekäme. Und das, obwohl die Schauspieler*innen deutlich machten: „Wir müssen nicht sein, was wir spielen. Wir spielen, als wären wir es – das ist unser Beruf.“ Die Aktion machte im Anschluss Schule: Andere Berufsgruppen – wie die Lehrer*innen mit #TeachOut und die Fußballprofis mit #KickOut – machten sich die Grundidee zu eigen und zeigten Gesicht.

Transfeindlichkeit beim LFT

Einen Aufschrei erntete im Mai das Programm des 2021 von Bremen aus koordinierten Lesbenfrühlingstreffens (LFT). Was war passiert? Die Antwort ist bitter: Nonchalant wurden transfeindliche Workshops und Panels aufs Programm gesetzt. Unter den Vortragenden u. a. die umstrittene Juristin Gunda Schumann, die trans* Identität gerne mal als „Irrweg“ labelt. Hinzu kam, dass transfeindliche, radikalfeministische Organisationen und Shops mit virtuellen Ständen vertreten sein sollten. Und das i-Tüpfelchen bildete eine Auflistung der willkommenen Identitätskategorien, die zwar u. a. detransitionierte Lesben erwähnte, lesbische trans Frauen allerdings unter den Tisch fallen ließ.

Die Empörung war groß, das Traditionstreffen fördernde Institutionen wie die Hannchen-Mehrzweck-Stiftung oder die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld distanzierten sich, ebenso die Bremer Frauensenatorin oder der Verein Lesbenring e. V. Die Orgas reagierten ihrerseits mit Empörung und Unverständnis auf die Kritik, man habe lediglich „radikal-feministische und queer-feministische Strömungen miteinander ins Gespräch bringen“ wollen. Schon klar. Bleibt zu hoffen, dass das LFT 2022 den Schaden wiedergutmacht.

Bild: Ivan Kuleshov

Prozess gegen Berliner HIV-Arzt

Es ist der erste große schwule #metoo-Fall der Berliner Community: Einem renommierten Berliner HIV-Arzt wurde vorgeworfen, Patient*innen während der Behandlung sexuell missbraucht zu haben. Fünf der offenbar etlichen Fälle wurden 2021 vor Gericht gebracht. Am 19. April starteten die Verhandlungen, die sich bis in den November zogen und entgegen den Erwartungen neben SIEGESSÄULE nur von wenigen Medien wie queer.de, dem Tagesspiegel oder der taz umfangreicher thematisiert wurden.

Letztere stand dem Prozess unfreiwillig sogar etwas näher, war doch taz-Mitbegründer und Promi-Anwalt Johannes Eisenberg Hauptverteidiger des HIV-Arztes. Unser Autor Sascha Suden, der den Prozess begleitete (so denn die Öffentlichkeit zugelassen war), berichtete von üblen Szenen im Saal, in denen sich Eisenberg unflätig und rabiat gegenüber Zeug*innen und Gericht aufführte. Das Ergebnis seiner autoritären Verteidigungsstrategie: Der Arzt wurde nur in einem der fünf verhandelten Fälle schuldig gesprochen. Kurz darauf legten Staatsanwaltschaft und Verteidigung Berufung ein. Ein Termin für die Berufungsverhandlung steht noch aus.

Antisemitismus

Wir müssen reden! Und zwar nicht über Gossip aus der Szene, sondern über ein gesamtgesellschaftliches Problem, dessen wir uns auch als queere Community dringend annehmen müssen: Antisemitismus. Das hat das letzte Jahr deutlich gezeigt. Beispielsweise machten antisemitische Codes auf den Demos gegen die Corona-Maßnahmen die Runde. Fotos gingen durch die Medien, auf denen Impfgegner*innen sternförmige Anstecker mit der Aufschrift „ungeimpft“ trugen. Das NS-Regime und die Verfolgung von Juden* und Jüdinnen* wurden massiv relativiert, Verschwörungstheorien verbreitet. Trauriger Abschluss des Jahres dann: in Berlin wurden mehrere Chanukka-Leuchter an öffentlichen Plätzen mutwillig zerstört.

Besonders bitter: auch innerhalb der queeren Szene in Berlin gab es in diesem Jahr einige Vorfälle, über die wir reden müssen. Zum Beispiel über den „Internationalist Pride“ im Sommer, auf dem Journalist*innen als „Zionistenpresse“ beschimpft wurden, oder der Weggang der „Buttons“-Party aus dem about blank mit Verweis auf eine angeblich zu israelnahe Haltung des Clubs. Vorsatz für 2022: diskutieren und aufklären, wie wir Antisemitismus erkennen und klar dagegen Position beziehen können.

Bild: Jeanine Eckardt

Selbstmord der trans Frau Ella

Es war eines der erschütterndsten Ereignisse des Jahres: Am 14. September zündete sich die trans Frau Ella vor einem Kaufhaus am Alexanderplatz an und verstarb noch am selben Tag. Jedes Jahr ziehen etliche queere Menschen nach Berlin, weil es hier eine große Szene gibt und eine Community, in der man sich geborgen fühlen kann. Doch trans* Personen, die vor allem im Alltag deutlich häufiger Diskriminierung ausgesetzt sind, müssen auch innerhalb der LGBTIQ*-Community oft mit Ausgrenzung rechnen. Weil sie dort nicht als trans Frau leben konnte, kam Ella vor einigen Jahren aus Iran nach Deutschland. 2020 zog sie von Magdeburg, wo sie gut vernetzt war, nach Berlin, um ihre Geschlechtsangleichung in Angriff zu nehmen. Doch diese Prozedur kostete Nerven, es ging nicht so schnell wie erhofft.

Ihre Freund*innen glauben, dass die Alltagsdiskriminierung und eben diese Schwierigkeiten bei der Geschlechtsangleichung Gründe für Ellas schonungslosen Freitod gewesen sein könnten. Die Berliner Community reagierte schockiert und hielt mehrere Mahnwachen am Alex ab. Was Ella bewog, diesen öffentlichen Schritt zu gehen, kann niemand genau sagen. In Erinnerung bleibt sie ihrem Umfeld aber als starke, lebensfrohe Frau.

Bild: Universal

ABBA-Comeback

Wenn eine Band sich vor 40 Jahren getrennt hat, dann erwartet wirklich niemand mehr ein Comeback. Das galt für ABBA umso mehr, hatten die vier Schwed*innen doch bisher etliche astronomisch dotierte Angebote für eine Reunion ausgeschlagen. Heute sind die Bandmitglieder über 70 und das tatsächlich real passierte Comeback rückt damit in den Bereich des Märchenhaften: Am 2. September veröffentlichten sie die ersten beiden Tracks ihres Albums. Dazu gab es parallele Release-Events in Berlin, London, Stockholm, New York, Sydney und Tokio. Zu hören gab es den Song „Don‘t Shut Me Down“, der den typischen ABBA-Sound wieder aufleben lässt, und die Ballade „I Still Have Faith In You“, in der man Agnetha und Anni-Frid durchaus anhört, dass sie älter geworden sind.

Am 5. November erschien dann das lang ersehnte Album „Voyage“, übersetzt „Reise“. Und die vier nehmen einen tatsächlich mit auf eine musikalische Reise in die Vergangenheit. Vieles klingt, als würde es genau dort weitergehen, wo ABBA 1982 mit ihrer letzten Single aufgehört haben. Das machte viele Menschen in diesem Jahr sehr glücklich. Die Platte schoss in diversen Ländern auf Platz eins und sichert ABBA endgültig einen Platz im Musikolymp.

Bild: Allianz Arena / B. Ducke

EM-Arena ohne Regenbogen

Für einen Moment in diesem Frühsommer stand die queerpolitische Welt in Deutschland Kopf. Was war passiert? Der Münchner Oberbürgermeister hatte einen Antrag bei der UEFA gestellt, zum EM-Fußballspiel Deutschland gegen Ungarn die Allianz-Arena in Regenbogenfarben erstrahlen zu lassen – ähnlich wie zum CSD. Ein Zeichen des Protests gegen ein Gesetz der ungarischen Regierung, das es verbietet, Minderjährige über LGBTIQ* zu informieren. Die UEFA lehnte den Antrag ab. So weit, so schlecht!

Das Unglaubliche passierte aber danach: Alle Parteien im Parlament mit Ausnahme der AfD kritisierten die Entscheidung des Fußball-Dachverbands und bezogen Stellung zu dem queerfeindlichen ungarischen Gesetz – darunter sogar die CSU. Selbst Horst Seehofer, ein Unterstützer des ungarischen Regierungschefs Orban, forderte Sanktionen. Man kam aus dem Staunen kaum heraus. Die EU leitete kurz darauf ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn ein. Dicker Wermutstropfen: Das Gesetz ist noch in Kraft, der Druck der EU war wohl zu lasch, und nicht einmal die EM-Arena leuchtete – dennoch war es ein gutes Signal, dass alle demokratischen Parteien in einer queerpolitischen Frage endlich einmal gemeinsam Flagge zeigten.

Bild: Canva

Corona

Nach dem Horrorjahr 2020 machte 2021 naive Hoffnung: Der sehnsüchtig erwartete Impfstoff war endlich da, Ende Mai durfte man wieder lernen, wie man ein Bier am Tresen einer Kneipe bestellt. In den folgenden Wochen blühte Berlin auf. Da die Clubs immer noch geschlossen waren, verlagerte sich das Feiern erneut nach draußen: Demos und Kundgebungen wurden die neuen Partys, und am Wochenende herrschte Festival-Stimmung auf dem Tempelhofer Feld. Als das SchwuZ dann Ende Oktober – nach fast 600 Tagen Schließung – endlich wieder seine Türen öffnen konnte, erstreckte sich eine Warteschlange von historischem Ausmaß vor dem Club. Doch die Feierlaune hielt nicht lange: Nach einem Monat war auch schon wieder Schluss. Stichwort vierte Welle. Wir schreiben nun das Jahr 2022 und es gibt einfach nichts zu feiern und man darf nirgendwo tanzen. Ciao Corona, hallo Corona!

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