Reportage

Der Krise entfliehen: Substanzkonsum in der Corona-Pandemie

10. Dez. 2020 Jeff Mannes
Bild: Ivan Kuleshov

Suche nach Entspannung, Spaß, Leistungssteigerung ... Gründe für Substanzkonsum gibt es viele. Für manche Konsument*innen aus der LGBTI*-Community, die unter den Folgen der Corona-Pandemie besonders leiden, kann der Rausch, erzeugt durch Alkohol, Cannabis oder Chemsex-Drogen, auch ein Bewältigungsmechanismus sein. Gerät der Konsum außer Kontrolle, bietet die queere Szene Berlins eine Reihe von Hilfsangeboten. SIEGESSÄULE-Autor Jeff Mannes berichtet

Der Winter steht vor der Tür. Seitdem die Temperaturen gesunken sind, treibt es die Menschen verstärkt wieder nach drinnen. Im Lockdown-light-November hieß das: zu Hause, und für viele oft allein – in einem Jahr, das ohnehin im Zeichen der Kontaktbeschränkungen stand. Die Clubs der Stadt, für viele Queers wichtige Zufluchtsorte, sind seit März geschlossen – im November kamen dann auch wieder die Bars und die Cafés hinzu.

„Die Pandemie hat dazu beigetragen, dass man mehr Zeit zu Hause verbringt und sich das Konsumverhalten mangels Alternative gesteigert hat.”

„In letzter Zeit kriege ich von Usern so viele Anfragen wie nie zuvor“, erzählte Florian Winkler-Ohm Anfang November im Podcast der „Love Rebels“, das Safer-Sex-Team der Frankfurter AIDS-Hilfe. Florian ist nicht nur Geschäftsführer des SchwuZ, sondern auch Rollenmodell zu Drogenkonsum bei der Präventionskampagne „Ich weiß was ich tu“ (IWWIT) der Deutschen Aids-Hilfe. In der Podcast-Folge zum Thema „Safer Use in Zeiten von Corona” erklärte Florian, dass viele Menschen ihn immer wieder wegen seiner Offenheit mit dem Thema anschreiben und um Rat fragen, zum Beispiel auch, wenn sie das Gefühl haben, dass sie selbst oder Bekannte den Konsum nicht mehr unter Kontrolle haben. „Das passiert in letzter Zeit, seit Corona da ist, häufiger. Die Pandemie hat dazu beigetragen, dass man mehr Zeit zu Hause verbringt und sich das Konsumverhalten mangels Alternative gesteigert hat.”

Sorgen und Isolation

Corona-Schutzmaßnahmen wie Lockdown und soziale Isolation kommen zu Angst vor Krankheit und Existenzsorgen hinzu. Laut einer Forsa-Umfrage im Auftrag des Bundesarbeitsministeriums und des Forschungsinstituts IZA, deren Ergebnisse Anfang November veröffentlicht wurden, stiegen psychische Belastungen stark an. 70 Prozent der Befragten fühlten sich emotional belastet. 55 Prozent litten unter Unsicherheiten, 15 Prozent unter finanziellen Schwierigkeiten. Diese Werte werden wahrscheinlich deutlich höher unter dem queeren Anteil der Bevölkerung sein: LGBTI*-Menschen leiden überdurchschnittlich an psychischen Problemen und arbeiten häufiger in prekären Verhältnissen oder in der Kulturbranche.

Wenn wir diese alltäglichen Probleme mit Partys und Geselligkeit nicht mehr ausgleichen oder ihnen ausweichen können, steigt dann unser Bedürfnis nach Rausch, nach dem extra Glas Wein, dem einen Joint mehr oder der zusätzlichen Line Koks?

„Am Anfang der Kontaktbeschränkungen, im März und April, kamen Menschen zu uns in die Beratung, die diese Zeit nutzen wollten, um weniger zu konsumieren oder damit aufzuhören.”

Conor Toomey ist psychologischer Berater und Suchttherapeut bei der Schwulenberatung Berlin und sieht dieses Jahr große Schwankungen beim Konsum. „Am Anfang der Kontaktbeschränkungen, im März und April, haben wir beobachtet, dass tatsächlich deutlich weniger konsumiert wurde. Einige Menschen kamen zu uns in die Beratung, die diese Zeit nutzen wollten, um weniger zu konsumieren oder damit aufzuhören.” Der erste Lockdown habe diesen Menschen ermöglicht, zur Ruhe zu kommen und den eigenen Konsum kritisch zu überdenken und gegebenenfalls anzupassen. Auch Chemsex-Partys habe es in der anfänglichen Verunsicherung durch das neue Virus deutlich weniger gegeben. Im Sommer sei der Konsum laut Toomey aber wieder auf ein normales Niveau angestiegen. „Und ohne jetzt dafür Belege vorweisen zu können, habe ich aber momentan tatsächlich das Gefühl, dass jetzt sogar mehr als sonst konsumiert wird”, fährt der Therapeut fort. „Dann wird zur Mittagszeit im Home Office schon das erste Glas Wein getrunken oder am frühen Nachmittag bereits der erste Joint geraucht. Es gibt mehr Gelegenheiten und durch die Kontaktbeschränkungen und den Lockdown fällt die soziale Kontrolle durch den Arbeitsplatz oder das Umfeld weg.”

Durchhalten wird schwieriger

Je länger die Pandemie und die damit verbundenen Beschränkungen des öffentlichen Lebens dauern, desto anstrengender werde es zudem für die Menschen. Toomey glaubt, dass vielen so langsam das Durchhaltevermögen ausgeht: „All das sind Belastungen. Für viele stellt der Konsum in so einer anstrengenden Situation eine Entlastung dar, auch wenn das auf längere Sicht schiefgehen kann.” Durch die soziale Isolation werden für manche auch Chemsex-Partys attraktiver, weil sie ein Weg sind, wieder zusammenkommen zu können und Zugehörigkeit zu erleben.

Celeste (Name von der Redaktion geändert) ist Süchtiger in Genesung. Seit drei Jahren konsumiert er überhaupt keine Substanzen mehr und besucht regelmäßig eine Selbsthilfegruppe. Auch er hat Leute erlebt, bei denen der Konsum während der Pandemie problematischer wurde: „Es gibt Menschen, die die Einsamkeit durch die Isolation so sehr belastet, dass sie halt alles tun, was sie können, um drauf zu sein.” Was er selbst gut nachvollziehen kann: „Ganz ehrlich: Wenn ich nicht abstinent wäre, würde auch ich jetzt ganz viel trinken und kiffen, um die Gefühle, die durch die Pandemie aufkommen, zu kompensieren.“ Trotzdem hat er auch die andere Seite erlebt: „In unseren Gruppenmeetings gab es auch Leute, die im Mai meinten: Gott sei Dank gab es einen Lockdown! Dadurch waren sie zu Hause eingesperrt und konnten keine Drogen kaufen oder auf Chemsex-Partys gehen.“ So hätten manche quasi zwangsweise sechs Wochen abstinent gelebt, etwas, das sie zuvor monatelang nicht geschafft hätten.

„Die Corona-Krise ist ein sehr großer Stressfaktor, eine Angstsituation, die Ohnmachtsgefühle auslöst. Konsum kann ein Weg sein, das zu regulieren“

Urs Gamsavar ist Sexualtherapeut bei Lust.Punkt und Projektleiter von {quapsss}, ein Gruppenangebot der Deutschen Aids-Hilfe für Männer*, die Sex mit Männern* haben, und die Chemsex praktizieren. Auch wenn konkrete Zahlen noch fehlen, hat auch er die Vermutung, dass in der Krise mehr konsumiert wird, egal ob das jetzt Chemsex-Drogen oder andere Substanzen wie zum Beispiel Alkohol und Marihuana sind. Und auch er sieht einen der Gründe darin, Spannungen durch die Krise abzubauen. Dann werde zu dem gewohnten Glas Wein am Abend noch ein zweites hinzugestellt. „Grundsätzlich hat der Konsum immer eine Funktion. Das kann Entspannung sein, aber auch das Wegdrücken negativer Gefühle oder das Ausblenden einer unangenehmen Realität. Und natürlich ist die Corona-Krise ein sehr großer Stressfaktor, eine Angstsituation, die Ohnmachtsgefühle auslöst. Konsum kann ein Weg sein, das zu regulieren”, sagt Gamsavar.

Queere Menschen sind doppelt betroffen

Emotionale Belastungen durch die Corona-Pandemie erleben momentan viele Menschen. Bei queeren Menschen kommt aber noch das Problem hinzu, dass sie einer Minderheit angehören. Der Therapeut verweist deswegen auch auf das Minderheitenstressmodell des amerikanischen Forschers Ilan H. Meyer, laut dem Angehörige von stigmatisierten sozialen Gruppen einem vermehrten Stress aufgrund ihrer sozialen Minderheitenposition ausgesetzt sind. Queers erleben somit ein Niveau an Stress, das weit über dem Durchschnitt nicht stigmatisierter Menschen liegt. Dieser Minderheitenstress ist zudem chronisch. Das heißt, er wird nicht einfach nur in einer kurzen Lebensphase empfunden, sondern begleitet Queers oft ein Leben lang. Nicht selten wirkt der Stress sogar von innen, zum Beispiel in Form von verinnerlichter Homonegativität, also wenn schwule, lesbische oder bisexuelle Menschen Vorurteile und Stigmatisierung psychisch verinnerlichen und diese somit ihr Bild von sich selbst negativ beeinflussen. „Dieser zusätzliche Stress wird manchmal durch Substanzkonsum bewältigt”, bekräftigt Gamsavar.

Je unsicherer man sich in seiner eigenen Identität fühlt, je weniger soziale Unterstützung man erfährt und je weniger man andere effektive Bewältigungsmechanismen entwickelt hat, desto höher liegt die Wahrscheinlichkeit, Substanzabhängigkeiten zu entwickeln. Es wäre deswegen nicht verwunderlich, wenn sich in Studien herausstellen würde, dass während der Coronavirus-Pandemie der Substanzkonsum tatsächlich anstieg – ganz einfach, weil auch die Summe an Stressfaktoren in der Zeit anstieg und die eigenen Ausweichstrategien sowie die soziale Unterstützung womöglich schneller aufgebraucht waren. „Ich höre immer wieder, dass während der Corona-Pandemie auch die Rückfallquote unter jenen, die eigentlich abstinent leben, stark erhöht ist”, berichtet der Therapeut.

Hilfe und Beratung in Berlin

Für diejenigen, die gerade merken, dass der eigene Konsum aus der Kontrolle gerät, oder etwas ändern möchten, bietet Berlin viele Hilfsangebote. Anlaufstellen wie die Schwulenberatung (nicht nur für Schwule, sondern auch für andere queere Menschen), Lust.Punkt und Mann-O-Meter bieten persönliche Beratungen und Selbsthilfegruppen. Mit ihren {quapsss}-Gruppen richtet sich die Deutsche Aids-Hilfe auch explizit an Männer*, die den Chemsex-Konsum nicht komplett beenden, aber trotzdem etwas an ihren Konsummustern ändern wollen. Auch manche Hausärzt*innen in Berlin können eine Beratung anbieten. Und zumindest schwule und bisexuelle Männer*, die vor einem direkten persönlichen Kontakt noch zurückschrecken, können sich unter gayhealthchat.de anonym Hilfe suchen.

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