Interview mit Mohamed Amjahid

Das System hinter der Polizeigewalt in Deutschland

26. Sept. 2024 Selina Hellfritsch
Bild: Toni Karat
Seit über zehn Jahren recherchiert und berichtet Mohamed Amjahid über die Polizeigewalt in Deutschland.

Mohamed Amjahid recherchiert und berichtet seit über zehn Jahren zum Thema Polizeigewalt. In seinem neuen Sachbuch „Alles nur Einzelfälle?“ beleuchtet er das strukturelle Polizeiproblem in Deutschland. Basierend auf repräsentativen Studien, investigativer Recherche und persönlichen Erlebnissen zeigt er auf, wie systematisch hierzulande Machtmissbrauch betrieben wird

In deinem Vorwort schreibst du, dass der Titel „Alles nur Einzelfälle?“ eine rhetorische Frage ist. Immer wenn es um Polizeigewalt geht, wird seitens der Polizei damit argumentiert, das es sich um Einzelfälle handele. Und genau das zu dekonstruieren, aufzunehmen und zu zeigen, da steckt ein System dahinter, ist die Intention meines Buches. Schaut man alle “Einzelfälle“ an, merkt man, dass wirklich alle davon betroffen sind und es ein gesamtgesellschaftliches Thema ist.

Du bezeichnest die Institution Polizei als eine Parallelgesellschaft. Was meinst du damit? Was Polizeikreise ausmacht sind vor allem die eigenen Regeln. Dort herrscht eine Copculture, in der sich Kolleg*innen decken, wenn es um illegale oder illegitime Gewalt, um Datenschutzskandale, Rechtsextremismus oder (tödliche) Polizeigewalt geht. Das ist eine Parallelwelt. Ein gutes Beispiel dafür sind die rechtsextremen Chats, die in der Vergangenheit aufgeflogen sind – das nicht etwa intern, sondern durch Recherchen. Intern wussten alle davon, entweder weil sie selbst beteiligt waren oder mitgelesen und nichts gemacht haben.

Stichwort Datenschutzskandale – Wie groß ist das Problem? Um es zu illustrieren: Als Helene Fischer in einer deutschen Stadt aufgetreten ist, haben nachweislich Dutzende Polizist*innen versucht ihre privaten Daten abzurufen. Innerhalb von Polizeibehörden gibt es keine Hemmungen in die Privatsphäre anderer Menschen einzudringen. Das passiert auch in alltäglichen Situationen: Es gibt unzählige Fälle von Polizist*innen, die die Daten ihrer (Ex-)Partner*innen ausspähen. Diese Datenschutzskandale sind nur die Oberfläche, denn danach kommt Gewaltanwendung und physische Gewalt.

Sind Polizist*innen dazu verpflichtet, diese Suchanfragen an Journalist*innen herauszugeben? Polizeibeamte tun alles in ihrer Macht, um Intransparenz zu generieren. Wenn ein Datenschutzskandal passiert, wird versucht es zu kaschieren. Dabei hat die Polizei rechtlich betrachtet die Pflicht, auch die Öffentlichkeit zu informieren und Stellung zu beziehen. Man muss sich nur die Datenschutzberichte von Bund und Länder durchlesen: Da steht regelmäßig drin, dass die Polizeibehörden nicht mit den Datenschutzbeauftragten kooperieren.

Du gehst auch auf den „NSU 2.0“* ein und teilst zum ersten Mal deine Erfahrungen und der daraus resultierenden Bedrohungslage, der du ausgesetzt warst und immer noch bist. Ich habe mich jahrelang dagegen entschieden das zu teilen – aus Sicherheitsgründen. Jetzt habe ich aber beschlossen, meine Situation transparent zu machen, weil der „NSU 2.0“ die Wucht der Polizeigewalt in der jüngsten Vergangenheit am besten illustriert. Im Buch versuche ich die offizielle Version der Sicherheitsbehörden und des Gerichts zu dekonstruieren und zu zeigen, dass die Einzelfalltheorie hier nicht stimmen kann. Mir ist es nicht leicht gefallen meine eigene Betroffenheit zu Papier zu bringen. Es war und ist eine große Belastung und die Gefahr ist noch nicht vorbei. Wir wissen, dass mutmaßlich mehrere Polizist*innen an dem „NSU 2.0“ beteiligt waren und sind.

„Mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit kann man sagen, dass der Großteil der Polizist*innen die AfD wählt. [...] Und was bedeutet AfD? Antisemitismus, Rassismus, Queerfeindlichkeit.“

Hier spielt die politische Ausrichtung der Polizist*innen eine Rolle. Wie rechtsextrem ist die Polizei in Deutschland? Es gibt
keine repräsentativen politischen Umfragen unter Polizist*innen – anders als z. B. in Frankreich. Die Behörden sträuben sich, dass es diese Forschung gibt. Deswegen habe ich versucht mich an die Frage heranzutasten und die vorhandenen Daten ausgewertet. Mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit kann man sagen, dass der Großteil der Polizist*innen die AfD wählt. Das Engagement von Polizist*innen innerhalb der AfD und im Vergleich zu anderen Parteien ist überrepräsentativ. Und was bedeutet AfD? Antisemitismus, Rassismus, Queerfeindlichkeit – diese Werte bringen Polizist*innen mit sich. Da müssen wir uns als Gesellschaft fragen: Wer sorgt hier für welche Sicherheit in welchem Auftrag?

Also kann man sagen, dass die Polizei strukturell queerfeindlich ist? Ja. Queerfeindlichkeit innerhalb von Polizeibehörden ist ein großes Problem. Denn die Polizei basiert auf toxischer heteronormativer Männlichkeit. Es gibt queere Menschen, die angegriffen werden, zur Polizei gehen und auch dort gedemütigt werden. Auch queere Polizist*innen berichten von Anfeindungen, Diskriminierung und Mobbing. Gleichzeitig fährt die Polizei Pinkwashing-Kampagnen und gibt sich divers.

„Ich bin per se nicht gegen Repräsentation, aber bitte nicht Diversity bei Polizeigewalt. Diversität ändert nichts am System hinter der Polizeigewalt.“

Pinkwashing und Diversität innerhalb der Polizei lösen keine Probleme. Gibt es trotzdem Maßnahmen, die diese Struktur aufbrechen? Ich bin per se nicht gegen Repräsentation, aber bitte nicht Diversity bei Polizeigewalt. Diversität ändert nichts am System hinter der Polizeigewalt. Ich habe es oft erlebt, dass Behörden einen Workshop organisieren und dann behaupten, dass es deshalb keinen Rassismus oder Queerfeindlichkeit mehr geben könne. Außerdem zeigen Studien, dass von Rassismus betroffene Polizist*innen sogar noch härter draufschlagen, weil sie sich innerhalb des Polizeisystems behaupten müssen. Hier müssen wir grundlegend über Strukturen sprechen.

Wäre es eine Lösung, die Polizei abzuschaffen? Für manche Gesellschaften ist das bereits eine Lösung und auch nicht so utopisch. Wir müssen Sicherheit neu denken. Wie wollen wir zusammenleben: in Sicherheit und Solidarität oder mit Repression und Polizeigewalt? Eine konkrete umsetzbare Reform, wäre eine unabhängige Behörde, die die Polizei kontrolliert. Außerdem geben wir zu viel Geld in die Polizei, obwohl das in Prävention und Sozialarbeit investiert werden könnte.

Wie sind die ersten Reaktionen auf dein Buch? Menschen fühlen sich persönlich beleidigt, bevor das Buch überhaupt veröffentlicht ist. Vor allem Vertreter*innen der Polizei sind es nicht gewöhnt, mit kritischen Fragen konfrontiert zu werden. Andererseits haben mir aber auch viele geschrieben, dass sie auf so ein Buch gewartet haben, weil sie selbst oder jemand aus ihrem Umfeld Polizeigewalt erfahren haben.

Du schreibst, dass Polizeigewalt kein Thema ist, das man als Einzelperson lösen kann. Trotzdem gibst du Tipps, wie man im Fall von Polizeigewalt handeln kann. Das einfachste ist, alles mit einem Smartphone zu dokumentieren. Dabei sollte man sich allerdings nie selbst in Gefahr bringen und seine Rechte kennen. Außerdem kann man dafür sorgen, dass sich die Betroffenen gesehen fühlen und ihnen Beistand leisten. Man kann auch immer andere Menschen auf die Situation aufmerksam machen. Wenn ein Fall vor Gericht ladet sind Dokumentationen, Videos und Augenzeugenberichte absolut wichtig. Denn Polizeibeamte lügen systematisch, auch vor Gericht.

„Mouhamed Dramé, Mohamed Idrissi, Ante P., Oury Jalloh, Medard Mutombo – das sind alles Menschen, die gestorben sind, weil wir als Gesellschaft nicht kritisch genug oder überhaupt nicht auf Polizeigewalt schauen.“

Abschließend noch die Frage: Was erhoffst du dir, was dein Buch bewirkt? Ich hoffe, dass sich viele Menschen freiwillig mit dem Thema auseinandersetzen und dass die Fallhöhe erkannt wird: Es geht um Menschenleben und Menschenwürde. Mouhamed Dramé, Mohamed Idrissi, Ante P., Oury Jalloh, Medard Mutombo – das sind alles Menschen, die gestorben sind, weil wir als Gesellschaft nicht kritisch genug oder überhaupt nicht auf Polizeigewalt schauen. Fast jede Woche werden Menschen von der Polizei getötet. Sie könnten noch leben, würden wir das Thema ernst nehmen. Ich möchte Menschen ins Grübeln bringen – hoffentlich auch diejenigen, die Entscheidungen in der Politik und Zivilgesellschaft treffen. Wir müssen uns diesem Problem stellen.

Bild: Piper Verlag
Das Cover des neuen Sachbuches von Mohamed Amjahid.

Mohamed Amjahid: „Alles nur Einzelfälle?“
Piper Verlag, 352 Seiten, 18 Euro
erscheint am 26.09.

Buchpremiere
02.10., 19:30
Kino Babylon

*Unter „NSU 2.0“ haben deutsche Rechtsextremist*innen seit 2018 rund 170 Morddrohungen versendet. Das Kürzel spielt auf die rechtsterroristische Gruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ und deren rassistische Morde an. Betroffen sind Menschen, die sich gegen Rassismus und Antisemitismus einsetzen.

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