Interview mit dem Coming-out Day e. V.

Coming-out Day: „Auf dem Schulhof hilft es nicht weiter, dass der Außenminister schwul ist“

11. Okt. 2021 Nina Süßmilch
Bild: Marius Steffen
Kleiner Teil des Teams vom Coming out Day e. V. in Köln

Am 11. Oktober wird weltweit der „Tag des Coming-out“ gefeiert. In Zeiten von Social Media, mehr sichtbaren Vorbildern und einer steigenden Anzahl queerer Identitäten: Wie relevant ist Coming-out überhaupt noch? Was bedeutet es heute für junge LGBTIQ*, sich zu outen? Wir sprachen mit Sven Norenkemper vom Kölner Coming out Day e. V.

Sven, ein Coming-out geschieht oft schrittweise. Wann und für wen sind diese Schritte heute noch am schwierigsten? Die Coming-outs sind natürlich so verschieden wie die Jugendlichen selbst. Wichtig ist auch immer, in welchem Umfeld sich die Jugendlichen befinden. Das kann in einer kleinen 100-Seelen-Gemeinde im Bayrischen Wald völlig reibungslos funktionieren: Gerade in solch einem Setting sind die Kinder und jungen Menschen miteinander bekannt. Dementsprechend merken die anderen auch, dass die Person, die sich geoutet hat, sich durch die neue Information „nicht ändert“. Und in einer vermeintlich bürgerlichen, großstädtischen, eher grün-liberalen Familie kann genau das Gegenteil der Fall sein. Wenn wir uns Statistiken ansehen, können wir aber schon feststellen, dass ein schwieriges Coming-out was mit den prekären Lebensverhältnissen der Familie zu tun hat, mit dem Bildungsniveau oder mit dem Background, zum Beispiel ob die Familie sehr religiös ist. Und da ist es dann relativ egal unserer Erfahrung nach, ob die*der Jugendliche aus einer stark muslimisch geprägten oder christlich-orthodoxen Familie kommt, oder auch aus einer freikirchlichen Familie.

„Viele möchten gar kein Label, lehnen das ab und fragen sich, ob das denn überhaupt wichtig ist“

Merkt ihr, dass sich durch die veränderte Mediennutzung auch die Coming-outs verändert haben? Mit der Entwicklung des Internets dachten wir, dass sich die Coming-outs total verändern würden und die Jugendlichen, die sich outen, auch rasend viel jünger werden würden. Aber das gibt die Datenlage nicht her. Der Durchschnitt liegt weiterhin bei 18, 19 Jahren. Wir beobachten auch, dass sich über das Internet Beziehungen anbahnen. Dann kann es aber passieren, dass zwei ungeoutete, junge Menschen aufeinander treffen, und niemand darf davon etwas wissen. Diesen Druck hält eine Beziehung, gerade im Jugendalter, nur sehr schwer stand. Dass ein Auseinanderbrechen dann eher am Setting liegt und nicht an der lesbischen oder schwulen Beziehung an sich, ist noch mal eine Lernleistung.

Habt ihr das Gefühl, dass die stärkere Ausdifferenzierung queerer Lebensformen den Jugendlichen bei der Identifikation hilft, oder macht es das für sie eher komplizierter? Ich glaube, dass die Forschung dazu noch nicht viel hergibt, weil es noch zu neu ist und über queere Lebenszusammenhänge vergleichsweise wenig geforscht wird. Von unserer Erfahrung her würde ich sagen, dass beides der Fall ist. Vielen Jugendlichen hilft es und sie beginnen sehr früh damit, im Internet zu recherchieren. Und gleichzeitig möchten viele auch gar kein Label, lehnen das ab und fragen sich, ob das denn überhaupt wichtig ist.

„Eine positive Wandlung ist, dass sich die Schule durch das stärker werdende Thema trans viel früher mit LGBTIQ*-Identitäten auseinandersetzen muss“

Wie wichtig sind Vorbilder in diesem Zusammenhang? Nach unserer Beobachtung ist das wahnsinnig wichtig, und zwar umso mehr, wenn diese Vorbilder etwas mit der eigenen Lebensrealität der Jugendlichen zu tun haben. Wenn über Klaus Wowereit bis hin zu Guido Westerwelle Prominente und Politiker*innen ihr öffentliches Coming-out haben, ist das für die Jugendlichen nett. Aber es hilft ihnen auf dem Schulhof kein bisschen weiter, dass der Außenminister schwul ist. Mit Social Media und den jungen Erwachsenen und Jugendlichen der LGBTIQ*-Szene, die teilweise wahnsinnig viele Follower haben, ist das anders. Das macht schon viel aus. Vor allem macht es mehr Interaktion möglich.

Ich finde es schockierend, dass die Suizidrate bei queeren Jugendlichen mit 18 Prozent immer noch sehr hoch ist. Oft scheint auch in den Schulen wenig Rückhalt zu existieren. Ändert sich da etwas? Viele Schulen und viele Lehrer*innen haben sich inzwischen auf den Weg gemacht und denken, dass das ein wichtiges Thema ist. Aber das sind Schulen, die Ressourcen haben. Die Statistik zeigt auch, dass sich die Problemlage auf Gymnasien anders darstellen als auf einer Hauptschule. Was die Zahlenlage angeht: Da bleiben manche Zahlen über die letzten 30 Jahre erschreckend konstant. Aber eine positive Wandlung ist, dass sich die Schule durch das stärker werdende Thema trans viel früher mit LGBTIQ*-Identitäten auseinandersetzen muss. Und das ist gut, denn je früher sich mit dem Thema queer beschäftigt wird, um so besser. So kann wirklich eine Grundlage für eine offene und vielfältige Gesellschaft geschaffen werden.

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