Reportage

Clowncore, Clownerie und LGBTIQ*: Mut zur Blamage!

11. Okt. 2024 Paula Balov
Bild: Oran Julius, Aorta Films
Die kinky Horrorclowns aus „Chrysalis“

Queerfeministische FLINTA*-Clowns, burleske Drag-Kollektive, kinky Spaßvögel und eine blühende Subkultur, die online dem androgynen Grimassenschneider huldigt – der Clown treibt seinen Schabernack überall, auch in der LGBTIQ*-Community. Wir sprachen mit Profi- und Hobby Clowns über das queere Potenzial der Kunstfigur

Der Clown ist aus dem kollektiven Gedächtnis nicht wegzudenken: ob als stark geschminkter Zirkusclown, wie ihn vor allem der englische Pantomime Joseph Grimaldi im 18. Jahrhundert prägte, als Show-Act auf der Kleinkunstbühne, komödiantische Filmfigur wie Charlie Chaplin oder – im Kontrast dazu – als Schreckensfigur im Horrorfilm. Ihm ist sogar eine ganze Subkultur gewidmet: Seit einigen Jahren sammeln sich unter dem Hashtag „Clowncore“ in Online-Communitys Beiträge von jungen Menschen, die sich als Clowns verkleiden. Clowns kommen auch in Dragshows vor und existieren nicht zuletzt als nischiger Fetisch. Auffällig daran ist, dass sich in all diesen Szenen deutliche queere Bezüge finden lassen. Was fasziniert LGBTIQ* so sehr am rotnäsigen Tollpatsch?

Bruch mit Sehgewohnheiten

Um die Frage zu beantworten, lohnt sich ein Blick auf Clownerie als darstellende Kunst. Harvey Rabbit ist in der Berliner QueerCommunity vor allem als Regisseur des campy Films „Captain Faggotron Saves The Universe“ mit Tchivett und Bishop Black bekannt. Darüber hinaus hat er aber auch Clownerie gelernt. Vor seinem Coming-out als trans Mann war er die zweite Hälfte von „HE: A Genderstranged Clown Duo“ und Mitbegründer der Show „ShameNoShame“. Mittlerweile hat er sich als Performer aus der Clownerie zurückgezogen, bietet jedoch noch Workshops an. Das Handwerk lernte er unter anderem in seinem Studium der Dramaturgie und des Experimentellen Theaters am New College of California. Bei einem Treffen im Café in Friedrichshain räumt er mit häufigen Fehlannahmen auf, betont jedoch, „dass Clownerie für jeden Clown etwas anderes bedeutet“. Für Harvey Rabbit ist wichtig: „Ein Clown muss nicht jonglieren können oder besonders akrobatisch sein.“ Jonglage, Akrobatik, all das seien optionale Skills, die die Clownsperformance unterstreichen können. Im Zentrum stehe neben der Körperkomik vor allem die Konfrontation mit dem Publikum. „In anderen Theaterdisziplinen wird erwartet, dass du ignorierst, wenn im Publikum jemand in der Nase bohrt. Doch für einen Clown ist das ein Geschenk“, lacht er.

Momente wie diese sind das kreative Material eines Clowns, genauso auch Eigenarten der Person hinter der roten Nase. Das macht für Harvey Rabbit Clownerie so empowernd. Wegen seiner körperlichen Behinderung wurde er häufig für die Art und Weise, wie er sich bewegt, belächelt. „In einem Clown Workshop hat mir zum ersten Mal jemand gesagt, dass meine Art mich zu bewegen großartig ist“, erinnert er sich.

Einige Performer*innen brechen mithilfe von Clownerie Sehgewohnheiten und Körpernormen. Deutlich wird das im Film „Clown*esses“ der Regisseurin Jana Rothe aus Hamburg. Die Doku porträtiert FLINTA*-Clowns, „die die Welt jenseits erlernter Strukturen auf den Kopf stellen“, heißt es in der Filmbeschreibung. Clownerie machen sie zu einer feministischen Ausdrucksform und „brechen die Erwartungen daran, wie sich weiblich gelesene Körper auf der Bühne bewegen“, erklärt Jana Rothe. Sie ziehen Grimassen, fallen hin, machen Faxen oder präsentieren eine tollpatschige Striptease-Nummer – die „Clown*esses“ parodieren und brechen mit Geschlechternormen.

„Es gibt keinen weiblichen oder männlichen Clown. Es gibt nur den Clown.“

Eine der Protagonist*innen im Film ist Lokke Wurm, nicht binäre Peformer*in aus Leipzig. In einer Szene im Film sitzt Lokke mit einem Propellerhut und aufgeschminktem Bart an einem Tisch und imitiert mithilfe einer Babypuppe eine Art Trainingssequenz, die an Fitness-Influencerinnen in Aerobik-Mitmachvideos erinnert – bis der Puppenkopf abrupt abfällt und aus dem Stumpf ein seltsamer, kleinerer Kopf auftaucht. Eine absurd komische Nummer, die sich als Parodie von heteronormativer Feminität interpretieren lässt.

„Es gibt keinen weiblichen oder männlichen Clown. Es gibt nur den Clown.“ Das ist ein bekanntes Zitat des englischen Clown-Forschers und Performers Jon Davison. Dem setzt Regisseurin Jana Rothe entgegen, dass der Clown dennoch meist männlich wahrgenommen wird, „weil in der patriarchalen Gesellschaft leider Männlichkeit die Norm ist“. Das erklärt vielleicht, warum sie sich in ihrem Film dazu entschieden hat, Clowns als „Clown*esses“ zu gendern und so weibliche und nicht binäre Performer*innen sichtbar zu machen. Die Lesart des Clowns als geschlechtslos, auch wenn er nicht immer so wahrgenommen wird, macht ihn dennoch zur beliebten Projektionsfläche, um Geschlechterfragen zu ergründen. Die „Clown*esses“ nehmen beispielsweise bewusst „Gender, den Bruch damit oder die Diskriminierungserfahrungen mit auf die Bühne“, so Jana Rothe.

Die Kunst des Scheiterns

Bei dem Spiel mit Geschlechterrollen ist unweigerlich eine Parallele zu Drag zu erkennen. Und natürlich mischt der Clown auch in dieser Szene mit: Intergalactic Pussy Shine ist ein neues queerfeministisches Kollektiv aus Berlin, bestehend aus dem Elektropunk-Duo Kitty & the Cat und den Performer*innen Uschi Jagger, Lisa Kuhl und internet_princess_1991. Im Mai hatte die Gruppe ihre Debütshow im Neuköllner Kulturzentrum Artistania. Alle haben Clownerie bei verschiedenen Lehrer*innen oder in Workshops gelernt, beispielsweise Uschi Jagger im Arthaus.Berlin nach den Methoden von Jacques Lecoq.

Bild: Sarah Schäfer
Das Berliner Performance-Kollektiv Intergalactic Pussy Shine

„Clowns nehmen Albernheit ernst“, so beschreibt internet_princess_1991 den Reiz an der Kunstform. Darin liege eine „tiefgreifende transformative Kraft“. Die Performances des Kollektivs haben aber auch viel mit Drag zu tun: „Ich mag es, auf eine hyperfeminine Art und Weise zu performen, von der mir gesagt wurde, sie sei ‚zu viel‘“, erklärt Kitty. „Der kleine Clown in mir erlaubt es mir jedoch auch, das von Zeit zu Zeit zu durchbrechen, indem ich albern und auch mal hässlich werde.“

„Ich mag es, auf eine hyperfeminine Art und Weise zu performen, von der mir gesagt wurde, sie sei ‚zu viel‘. Der kleine Clown in mir erlaubt es mir jedoch auch, das von Zeit zu Zeit zu durchbrechen.“

„Ein Clown ist zutiefst ehrlich und verletztlich“, sagt Harvey Rabbit, um den Unterschied zwischen Clownerie und Drag zu erläutern: Während Dragqueens auf der Bühne häufig sarkastisch sind, sei das für den Clown kontraproduktiv. Denn Sarkasmus kreiert eine Distanz zwischen der Figur auf der Bühne und dem Publikum. Wenn eine Dragqueen stolpert, schüttelt sie ihren Fehler mit einem selbstironischen Witz ab. Ein stolpernder Clown hingegen möchte sein Publikum mit jeder Faser an seinem Stolpern und dem Gefühl der Peinlichkeit teilhaben lassen. Auch darin liege laut Harvey Rabbit die Kraft – wie auch die Herausforderung, der Clownerei: Sie ist die Kunst des Scheiterns und erfordert Mut zur Blamage. Viele Performer*innen kreieren Sketche, in denen sie auf die eine oder andere Weise mit dem Scheitern umgehen: Scheitern an der Gravitation, an simplen Abläufen und Gegenständen – oder aber an Geschlechterrollen, Barrieren und Normen.

Bild: Tanja Schnitzler
Clown-Experte und Regisseur Harvey Rabbit gibt auch Workshops

Die Magie der Clownsnase

Die empowernden Eigenschaften der Clownerie erklären vielleicht, warum Clown-Workshops längst nicht nur bei Menschen aus der Theaterwelt beliebt sind. Der Intensiv-Workshop „Discover your own clown“ (auf Englisch) von Harvey Rabbit, der über ein ganzes Wochenende geht, soll Menschen (mit und ohne Vorkenntnisse) dazu ermutigen, neue Seiten an sich zu entdecken und sich zu trauen, albern, kindlich und verspielt zu sein – all das, was im Alltag normalerweise unangebracht ist. Das erinnert an das Phänomen Clowncore. Was 2018 als nischiger Schmink- und Mode-Trend auf Instagram begann, entwickelte sich rasch zu einer eigenen Subkultur. Vor allem junge FLINTA* posten Fotos von sich im Clownsoutfit und drehen lustige TikTok-Videos. Auch diese Clowns verarbeiten in ihren Videos, teils mit Galgenhumor, Genderfragen, Körpernormen oder psychische Probleme. Die Mode ist von den pompösen Outfits aus „RuPaul‘s Drag Race“ inspiriert, aber auch vom japanischen Stil Decora Kei, der sich durch große Mengen quietschbunter Accessoires auszeichnet. Dark Clowncore gibt es übrigens auch – das Gothic-Pendant, bei dem der traurige Clown im Zentrum steht.

Clowncore ist mehr als eine Modeszene. Für einige Anhänger*innen ist das eine Identität. So zum Beispiel für Ray aus Johannesburg. Zum Interview über Zoom erscheint Ray geschminkt mit einer aufgemalten roten Nase und schwarzen Strichen über und unter den Augen. Er ist nicht binär und verwendet Er-Pronomen. „Ich habe ursprünglich angefangen, mich als Clown zu schminken, weil ich mich allein gefühlt habe. Es gab niemanden, mit dem ich über mein Geschlecht hätte reden können“, erzählt er. „Ich dachte, ich könne durch Clown-Make-up meine maskuline Seite unterdrücken – stattdessen habe ich sie versehentlich betont!“ Er lacht. „Und dann habe ich sehr viele genderfluide Clowns auf Pinterest, TikTok und so weiter gefunden!“ Für Ray bietet das Clownsoutfit eine Möglichkeit, Aspekte seiner Persönlichkeit und seines Genders auszuleben, die er oft verstecken musste. Er beschreibt, wie er sich schon als Kind von der Pierrot-Puppe seiner Mutter magisch angezogen fühlte. Er erkannte in der Clownsfigur, die androgyn und irgendwie seltsam aussah, sich selbst. Auch im Alltag trägt er gern clownesque Outfits und hat sich eine Clownsmaske auf den Unterarm tätowieren lassen. Als Content-Creator und Model hat er die Möglichkeit, seine Leidenschaft auch in den beruflichen Kontext einzubringen, obwohl er nie Clownerie an einer Theaterschule gelernt hat.

Bild: Privat
Ray aus Johannesburg ist Teil der Clowncore-Subkultur

Was er mit den Profi-Clowns teilt: Fast alle beschreiben, wie allein das Aufsetzen der roten Nase ihre Persönlichkeit verändert. Harvey Rabbit und Uschi Jagger bezeichnen die Clownsnase als „kleinste Maske der Welt“. Jana Rothe, die ihre Protagonist*innen am Schminktisch beobachtet hat, bezeichnet es als „magischen Moment“: Die Alltagsperson tritt in den Hintergrund und der Clown übernimmt das Ruder.

Auch wenn Clowncore für die meisten Anhänger*innen der Szene, so auch für Ray, kein Fetisch ist, lassen sich die Parallelen schwer ignorieren: Die Erfahrung, dass spezifische Kleidung unterdrückte Aspekte der Persönlichkeit hervorkitzeln kann, beschreiben zum Beispiel auch Puppys. Da überrascht es nicht, dass Clowns auch als Fetisch existieren. Während für einige vor allem das Outfit den Reiz ausmacht, praktizieren andere „Clown Play“ im BDSM-Kontext: Typische Gegenstände aus dem Scherzartikelladen – aneinandergeknotete Unterhosen, Gummihühner, Luftballons, Spritzblumen – kommen in der BDSM-Session zum Einsatz. Je nach persönlicher Vorliebe dürfen diese Spiele einen gewissen Gruselfaktor haben.

Kinky Horrorzirkus

Für viele Menschen ist der Horrorfilm die erste Assoziation mit Clowns, wofür sicherlich Stephen Kings Figur Pennywise aus dem Roman „Es“ mitverantwortlich ist. Der queere Pornofilm „Chrysalis“ von Oran Julius aus New York, der letztes Jahr auf dem Pornfilmfestival Berlin als Teil der „Horror Porn Shorts“ gezeigt wurde, vereint clownesque Albernheit mit Horror und Kink. Der Plot: Ein Date eskaliert auf bizarre Weise, als der nichtsahnende Dee aufwacht und feststellt, dass ihn böse Clowns gefesselt haben …

„Ich wollte, dass dieser Film die Leute angeturnt zurücklässt, aber auch mit einem Gefühl des Unbehagens“, so Oran Julius.

„Die Energie der Darsteller*innen, die ich – liebevoll – als chaotisch beschreiben würde, hat den Wechsel zwischen Humor und Horror perfekt ermöglicht.“

„Die Energie der Darsteller*innen, die ich – liebevoll – als chaotisch beschreiben würde, hat den Wechsel zwischen Humor und Horror perfekt ermöglicht.“ Die kinky Grusel-Clowns verpassen der überwiegend schwarz gewandten Fetischszene nicht nur einen Farbtupfer, sondern bringen auch unberechenbares queeres Chaos in die Lust an der Dominanz und Unterwerfung – wo doch gerade BDSM oft mit dem Gegenteil, nämlich mit Disziplin, Ritual und strammen Regeln assoziiert wird.

Ob beim Pornfilmfestival, auf der Fetischparty, auf TikTok oder der Bühne – der Clown birgt ein bemerkenswertes queeres und emanzipatorisches Potenzial, das nicht genug gewürdigt wird. Er kann erhobenen Hauptes an engen Zuschreibungen scheitern und dabei Machtverhältnissen ins Gesicht lachen. Der Name von Harvey Rabbits Workshop ist eine gute Empfehlung: Entdecke den Clown in dir! Es könnte sich lohnen – das Leben ist schon ernst genug.

Intergalactic Pussy Shine
intergalacticpussyshine.com

Workshop „Discover your clown“
discoveryourclown.de

Dokumentarfilm „Clown*esses“
Regie: Jana Rothe
Mit Lokke Wurm, Gözde Atalay u. a.

Pornofilm „Chrysalis“
Regie: Oran Julius
Mit Dee Darkholme u. a

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