Chaos im Kopf: Queere Menschen mit ADHS
Um ADHS ranken sich viele Mythen: Als Modekrankheit verschrien wird die Diagnose oft missverstanden oder mit einem Stigma belegt. Wie gehen queere ADHSler*innen damit um – und wie wirkt sich Neurodivergenz auf das Dating- und Beziehungsleben aus?
Wenn es ums Daten geht, sei er ein ziemlicher Pechvogel, sagt Alexander Finger. Schon lange versuche er, einen Partner zu finden. „Ich bin sehr offen und lande mit Anderen schnell auf einer persönlichen Ebene“, erzählt der 33-jährige Berliner im Gespräch mit SIEGESSÄULE. Doch dann entstünden oft Missverständnisse, die andere Person reagiere überfordert – oder sie habe ein Problem damit, dass Alexander schon einen Partner hat und suche eigentlich nach einer monogamen Zweierbeziehung.
Doch das kommt für ihn nicht in Frage, genauso wenig wie One-Night-Stands. Er wünscht sich eine ernsthafte und verantwortungsvolle Partnerschaft, in der mehr als zwei Personen Platz haben. Mit seinem jetzigen Freund ist er seit über elf Jahren zusammen, davon verbrachten sie fünf Jahre mit noch einem dritten Partner. Sie haben also eine feste polyamore Beziehung. Alexander glaubt, dass sein „Poly-Dasein“ viel damit zu tun hat, dass er ADHS hat. Er sei sehr spontan, impulsiv, wolle oft von jetzt auf gleich etwas unternehmen und habe wenig Geduld, wenn sein Freund mehr Zeit braucht oder langfristiger planen will. Mit mehr Menschen sei mehr möglich.
ADHS steht für Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung und bezeichnet die häufigste Entwicklungsstörung im Kindes- und Jugendalter, so der Münchner Kinder- und Jugendfacharzt Walter Hultzsch gegenüber SIEGESSÄULE. Die Symptome umfassen starke Konzentrationsprobleme und impulsives Verhalten und sind von genetischer Veranlagung sowie von psychosozialen Einflüssen abhängig, also beispielsweise von Familie und Schule, erklärt Hultzsch. Dies verschwinde im Erwachsenenalter jedoch nicht – ADHS ist nicht heilbar.
Dating unter erschwerten Bedingungen
Da es sich um eine von der Norm abweichende neuronale Entwicklung handelt, spricht man auch von Neurodivergenz. Das heißt, die Informationsverarbeitung im Gehirn unterscheidet sich von der „neurotypischer“ Menschen. Zu den Neurodivergenzen zählen neben ADHS zum Beispiel Autismus, Legasthenie oder das Tourette-Syndrom. Menschen mit ADHS haben meist Schwierigkeiten damit, Regeln einzuhalten, Entscheidungen zu treffen, Freundschaften zu pflegen oder ihre Gefühle zu kontrollieren. Außerdem würden sie zu unüberlegten Handlungen neigen, sagt Hultzsch. Das kann zu Schwierigkeiten in zwischenmenschlichen Beziehungen führen und zu Missverständnissen, wenn man neue Menschen kennen lernen oder daten will.
Mit genau diesem Problem beschäftigt sich der Bericht „Liebe und ADHS“ der Dating-App Hinge von Oktober 2024. Verhaltenswissenschaftlerin Logan Ury und Familientherapeut Moe Ari Brown haben dafür über 9000 Hinge-Nutzer*innen mit klinischer ADHS-Diagnose nach ihren Erfahrungen befragt. Eine große Mehrheit (82 Prozent) habe zu diesem Zeitpunkt eine Beziehung gesucht, dabei aber mit sozialen Herausforderungen zu kämpfen gehabt. Viele seien von Dating-Apps überfordert. So würden sich 74 Prozent von ihren Matches – also den potenziellen Dates, die über die App vermittelt werden – missverstanden führen.
Sehr häufig liege das an textbasierter Kommunikation, also am Chatten. 43 Prozent der Hinge-Nutzer*innen mit ADHS gaben beispielsweise an, dass sie häufig vergessen, ihren Matches zu antworten. Die Hälfte der Befragten lernt ihr Match lieber persönlich kennen, weil es ihnen schwer falle, Absichten und Signale einer unbekannten Person zu deuten – was natürlich auch beim ersten Treffen Schwierigkeiten bereiten kann.
„Ich bin sehr direkt und werde oft als unhöflich wahrgenommen, weil ich subtile Kommunikation nicht immer verstehe.“
So geht es Alexander häufig. „Ich bin sehr direkt und werde oft als unhöflich wahrgenommen, weil ich subtile Kommunikation nicht immer verstehe.“ Dass Menschen beispielsweise sagen „Schön, dass wir uns getroffen haben“ und eigentlich meinen „Bitte geh jetzt wieder“, habe er erst lernen müssen. Dass er vergesse, Matches zu antworten, komme bei ihm aber eigentlich nie vor. „Wenn ich jemanden matche, habe ich einen Monofokus darauf und kann nur schwer an etwas anderes denken.“
Viola Helmers aus Essen, die ebenfalls ADHS hat, kann sich damit durchaus identifizieren. „Ich tue mich mit dem Antworten sehr schwer, weil mir Chats in Dating-Apps schnell zu langweilig werden“, erzählt die 30-Jährige im Gespräch mit SIEGESSÄULE. Genau wie Alexander und 31 Prozent der befragten Hinge-Nutzer*innen habe sie häufig Probleme mit Smalltalk. Um nicht das Interesse zu verlieren, führen Datende mit ADHS laut der Studie lieber von Beginn an tiefgründige Gespräche.
„Das heißt aber nicht, dass man gleich eine besondere Verbindung hat“, so Alexanders Erfahrung, im Gegenteil: Häufig sei sein Gegenüber hoffnungslos überfordert. Ihn begleite daher die ständige Angst, etwas Falsches zu sagen, auch um Missverständnisse zu vermeiden. Das geht laut dem Hinge-Report 64 Prozent der queeren ADHSler*innen so, da sowohl Queerness als auch Neurodivergenz stigmatisiert werden.
Alexander verrät deshalb selten jemandem, dass er ADHS hat, und schon gar nicht, dass er dagegen Ritalin nimmt, obwohl ihn das Medikament sehr unterstützt. „Dank Ritalin kann ich mich konzentrieren, komme zur Ruhe und führe das Leben eines Nicht-Betroffenen. Es hilft mir, ich selbst zu sein und nicht nur mein ADHS“, sagt er. Doch auch damit seien Vorurteile verbunden.
„Ritalin ist ein seit Jahrzehnten erprobtes Medikament, das keine Abhängigkeit, kein Glücksgefühl, keine Langfristfolgen und nur selten vorübergehende Nebenwirkungen verursacht.“
Hultzsch beobachtet, dass zur Behandlung von ADHS viele Desinformationen kursieren: Medikamente würden mit Abhängigkeit und Drogen in Verbindung gebracht. Dabei sei die medikamentöse Therapie neben speziellen Coachings oder Verhaltenstherapien oft nötig, um Konzentration zu ermöglichen. „Ritalin ist ein seit Jahrzehnten erprobtes Medikament, das keine Abhängigkeit, kein Glücksgefühl, keine Langfristfolgen und nur selten vorübergehende Nebenwirkungen verursacht“, betont er.
Viola kann das bestätigen: Sie nimmt ein ähnliches ADHS-Medikament mit demselben Wirkstoff. „Ohne hätte ich meine Masterarbeit sicher nicht so gut schreiben können. Es hilft aber auch bei der emotionalen Regulation“. Sonst lande sie oft in einer Spirale aus Frustration, Schuld und dem Gefühl, nicht gut genug zu sein, wenn sie etwas nicht schafft.
Schnittmengen zwischen Queerness und Neurodivergenz
Im Gegensatz zu Alexander geht sie jedoch sehr offen mit ihrem ADHS um und ist bislang nicht mit Vorurteilen konfrontiert gewesen – auch beim Daten habe sie keine Probleme. Das liege daran, dass sie sich überwiegend in queeren FLINTA*-Communitys bewege, die ihrer Erfahrung nach sehr achtsam mit mentaler Gesundheit umgingen. Sie stoße dort sogar relativ oft auf andere neurodivergente Menschen und könne Personen daten, denen es genauso gehe wie ihr.
Tatsächlich gibt es laut einer Studie aus dem Jahr 2020, die in der Fachzeitschrift „Nature Communications“ veröffentlicht wurde, größere Schnittmengen zwischen queeren und neurodivergenten Menschen. Untersucht wurde dies vor allem mit Blick auf trans* und nonbinäre Menschen sowie Autismus. Aber auch ADHS komme in dieser Gruppe prozentual häufiger vor. Die queere und autistische indische Journalistin Devrupa Rakshit stellt in dem Magazin „The Swaddle“ die These auf, dass das eine das andere bedinge: Neurodivergenten Menschen falle es ohnehin schwerer, sich an gesellschaftliche Normen anzupassen und brächten dadurch auch eine größere Offenheit für alternative Vorstellungen von Geschlecht und Sexualität mit. Die amerikanische Wissenschaftlerin Nick Walker prägte in dem Zusammenhang den Begriff „neuroqueer“.
Coming-out als neuroqueer
Damit können sich sowohl Alexander als auch Viola identifizieren. Beide sagen, dass sie sich oft „anders“ oder „komisch“ fühlen. Für Viola war die ADHS-Diagnose, die sie erst mit 24 Jahren bekommen hat, „vergleichbar damit, herauszufinden, dass ich queer bin“. Es sei eine Erleichterung gewesen zu wissen, warum ihr viele scheinbar einfache Dinge schon immer so schwer gefallen seien. „Man fühlt sich plötzlich komplett.“ Gleichzeitig sei der offene Umgang mit ADHS anderen gegenüber „wie ein Coming-Out“.
„Die ADHS-Diagnose zu bekommen war vergleichbar damit, herauszufinden, dass ich queer bin. Man fühlt sich plötzlich komplett.“
Alexander bekam die Diagnose mit 14 Jahren, weil er große Probleme in der Schule hatte. Auch das ist laut Hultzsch schon viel zu spät. Die meisten Betroffenen würden in der Grundschule auffällig, weil sie Schwierigkeiten hätten, zuzuhören, zu lernen, Routinen einzuhalten und Dinge zu priorisieren. „Eine wichtige Filterfunktion fehlt.“
Dass FLINTA* erst spät diagnostiziert werden, sei hingegen typisch, weil sie sich oft angepasster verhielten und seltener den Unterricht störten. Das könne gravierende Folgen haben: Nicht therapiertes ADHS kann zu dauerhafter Überforderung und in der Folge zu Ängsten, Depressionen oder Burnout führen.
Viola sieht eine Gemeinsamkeit von ADHS und Queerness darin, dass Awareness damit einhergehe, also Achtsamkeit: Das eigene „Anderssein“ sensibilisiere für die Bedürfnisse anderer, seien es Rückzugsorte ohne laute Musik oder mit einem besonderen Schutzraum für FLINTA*. Außerdem würden beide Identitätsmerkmale sie resistent gegen Meinungen von außen machen. „Ich bin oft laut, mache viel Quatsch und falle auch mit meinem queeren Date in der Öffentlichkeit auf. Ich sehe gar nicht ein, das zu ändern.“
In dieser Hinsicht hat Alexander andere Erfahrungen gemacht und sieht Unterschiede zwischen queerer und schwuler Community: „Viele Schwule wollen vor allem gesellschaftlich anerkannt sein, es herrscht hoher Anpassungsdruck, Körperkult und Statussymbole sind wichtig.“ Zwar gebe es eine ausgeprägte Sexpositivität, aber wenn es um Partnerschaft und Liebe geht, dominiere ein monogames Verständnis von Beziehungen.
Desinformationen auf Social Media
Wer die sozialen Medien verfolgt, bekommt den Eindruck, dass Neurodivergenz lange nicht mehr so stigmatisiert ist wie noch vor einigen Jahren: Viele Nutzer*innen sprechen dort offen über ihre Diagnosen und geben Tipps, den Alltag besser zu meistern. Allerdings kursieren auch viele Desinformationen. Hultzsch warnt davor, Plattformen wie Instagram oder TikTok als alleinige Informationsquelle zu nutzen.
In diesem Kontext ist die Psychologie-Professorin Inna Kanevsky (@dr_inna auf TikTok/Instagram) erwähnenswert, die vor allem Fact-Checking auf Social Media betreibt und falsche Behauptungen zu ADHS und anderen Diagnosen entlarvt. Außerdem gibt sie Tipps für bessere Medienkompetenz.
Hultzsch warnt davor, dass ADHS auf Social Media oft als „Entschuldigung für jeden Misserfolg“ herangezogen werde. Alexander hat sogar den Eindruck, dass sich manche Menschen beinahe mit ihren Selbstdiagnosen „schmücken“ würden.
Viola sieht das anders, auch aufgrund der eigenen späten Diagnose. Ihrer Erfahrung nach kennen sich nur wenige Ärzt*innen und Therapeut*innen gut genug mit ADHS bei Erwachsenen aus, die meisten Diagnose-Fragebögen seien auf kleine Jungs ausgelegt. Eine Selbstdiagnose sei daher oft der erste wichtige Schritt und ihr persönlich habe Social-Media-Content dabei sehr geholfen. Hultzsch merkt noch an, dass Betroffene unabhängig von ihrem Alter Hilfe bekommen können.
Letztendlich finden sowohl Viola als auch Alexander, dass ihr ADHS auch eine „unglaubliche Ressource“ sei, wie Alexander es ausdrückt. Durch seine Spontanität habe er sehr viel erreicht, sich viele Träume verwirklicht, mehrmals im Ausland gelebt, sechs Fremdsprachen und das Dolmetschen gelernt. Nun wolle er aber eines seiner vielen Hobbys zum Beruf machen: das Puppenspiel.
Auch Viola sagt, dass sie immer wieder Neues ausprobiert und ihr nie die Ideen für kreative Projekte ausgingen. Sie sei begeisterungsfähig, könne andere gut mitreißen und ist sich daher sicher: „Mein Leben wird immer interessant bleiben.“
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